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Bodin Lacht

Bodin Lacht

Titel: Bodin Lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvie Schenk
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und er würde auch die noch nicht versunkenen Gesichter seiner Jugend, seiner Kindheit definitiv löschen, all die grauen Seelen der Vergangenheit in der guten Luft wegpusten. Und sich einbilden, dass er Christine Droemer suchte, obwohl er gar nicht mehr wusste, ob er sie wirklich finden wollte, ob Christine Suter nicht auch Christine Droemer vertreten könnte, beide verschmolzen zu einer alterslosen Brünetten, die eine Mischung aus Deutsch, Schweizerdeutsch und Französisch sprach. Erschöpft schloss er die Augen und mehrere Christinen drängten sich in seine Nähe, Patientinnen-Christinen, Wirtinnen-Christinen, Geliebte-Christinen, Pianistinnen-Christinen, denn Christine war ein Deckname für die Liebe geworden; das Tal, in dem er von freundlichen Krähen begleitet lief, weitete sich ins Unendliche. Er erwachte ruckartig aus seinem Sekundenschlaf und zwang sich aufzustehen. Er öffnete das Fenster und atmete die kalte Luft, die nach verbranntem Holz roch. Vor ihm lag ein schneebedeckter, nicht eingezäunter Garten, vor einer Zwergkiefer lagen Kinderhandschuhe, daneben leuchtete ein Urinfleck. Ein Kind hatte da gepinkelt und seine Handschuhe vergessen. Das Leben war irdisch und durchaus annehmbar.

FELD 43: LEIHBADEHOSE
    Und die Angst beflügelt den eilenden Fuß.
    F RIEDRICH S CHILLER, Die Bürgschaft
    Martin hielt ein paar Meter vor der Haustür, erkannte, den rechten Fuß auf dem Boden, den linken noch auf dem Pedal, einen davor parkenden Polizeiwagen und radelte sofort davon. Warum hatte er nicht den Mut, die Wohnung zu betreten und sich schlicht und reinen Gewissens über die Gegenwart der Polizei zu wundern? Was ist hier los, hätte er empört fragen sollen, was machen Sie denn da? Was habe ich denn verbrochen? Haben Sie überhaupt einen Durchsuchungsbeschluss? Er konnte es aber nicht. Sein Handy war sicher beschlagnahmt und untersucht worden (hatte er es überhaupt abgeschaltet?), und er stellte sich vor, wie Lilianes Augen ihn vorwurfsvoll durchbohren würden, wie er vor Scham im Boden versinken, und wie die anderen auf seine schlichte und unschuldige Empörung mit fettem Lachen reagieren würden. Vielleicht lag aber sein Unvermögen auch darin, dass er immer mehr fühlte, dass man ihn für schuldig erklären würde, dass er sich selbst schuldig empfand, egal woran. Ach, und auch die Bloßstellung seiner Intimität beschämte ihn (warum, anstatt mit Büchern zu seiner Mutter zu radeln, hatte er nicht die Frauenkleider und die Wäsche in seine Tasche gepackt?). Sollte er doch zu Bodins Wohnung fahren? Sich bei einem Freund verstecken? Warum versuchte er, eine Befragung hinauszuschieben, die sowieso stattfinden würde? Er musste sich zuerst sammeln, nachdenken, zur Ruhe kommen. Aber nicht bei Bodin. Nicht sofort.
    Er ging ins Schwimmbad, lieh sich dort eine Badehose und ein Handtuch und tauchte mit einem Kopfsprung ins große Becken, kraulte hin und zurück, schielte zu den benachbarten Bahnen und erkannte keine der alten Damen, mit denen er öfter morgens seine Bahnen zog, es schwammen nur ein paar jüngere Menschen mit, die Entspannung nach der Arbeit suchten oder ihre Muskeln trainieren wollten; sie würden dann nach Hause fahren, ein Bier trinken, ihre Freundin küssen und erzählen, dass sie unter Wasser drei Sekunden länger als vorige Woche die Luft anhalten konnten. Und er? Er kraulte und ertränkte im gedroschenen Wasser die Visionen seiner Verhaftung, bewegte heftiger Schultern, Arme und Hände, bevor die Handschellen klickten, spuckte seine Verwirrung in die Wellen, schlug mit den Füßen seine Ohnmacht platt, bald aber vervielfachte sich sein Gewicht, er brachte seine Fuß- und Armbewegungen nicht mehr in Einklang, paddelte wie ein Anfänger im Wasser, fand seinen Atemrhythmus nicht mehr, würgte und zappelte wie ein Fisch im Netz. Nach einer halben Stunde gab er erschöpft auf: Er hatte sich zwar einen Aufschub geleistet, aber keinen Entschluss gefasst, die Angst saß ihm immer noch in den Gliedern. Ich will nicht, ich kann nicht nach Hause fahren. Als er aber diese Worte mit Fischmund ins Wasser brabbelte und mit geschlossenen Augen die klatschenden Schläge eines Schwimmers hörte, roch er noch einmal am Chlorgeruch des Wassers, stieg aus dem Becken, duschte, zog sich an, gab die nasse Badehose zurück mit dem Gefühl, dass er in den nächsten dreißig Jahren nie mehr würde

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