Bodin Lacht
gesperrt. Sie stellten ihm Fragen über seine Region, seine Stadt, auch er gab sich Mühe, Antworten zu geben, und spürte Marions schwarze Augen, die ihn durchbohrten, schon in diesem Alter, dachte er, ist der Blick eine Waffe, und sieh mal an, das Mädchen wollte plötzlich wissen, ob er verheiratet sei und wo seine Frau stecke. Das kleine Biest (unmittelbar nach Marions Frage füllte seine Abneigung wie reiner Alkohol auf entzündetem Zahnfleisch seine Mundhöhle), um sicherzugehen, dass Bodin sie verstanden hatte, zeigte es auf den Ehering ihres Vaters. Ihre Frau? Die Mutter wies sie auf Französisch zurecht, aber Bodin vernahm wieder einen amüsierten Ton unter dem Tadel. Warum hatte er das Gefühl, dass er in ein anderes Leben und eine andere Zeit eingetreten war? Er lächelte gnädig und wollte sagen, seine Frau sei verstorben (dabei sah er nur die Züge seiner jungen, sterbenden Mutter), er wollte es auf Französisch sagen, damit die Familie erfuhr, dass auch er diese Sprache etwas verstand, das wichtige Wort fehlte ihm aber, verstorben, tot, wie sagte man »tot«? Er war ein Viertelsekunde versucht, den Tod zu mimen, so zum Beispiel mit der Handkante an den Hals oder den Kopf mit herausgestreckter Zunge auf den Tisch fallen zu lassen, besann sich eines Besseren und sagte auf Deutsch, seine Frau sei nach einem Unfall gestorben. Es folgte ein betretenes Schweigen. Oh!, sagte die Wirtin in ihrer Muttersprache, désolée. Bodin freute sich darüber, wie leicht ihm diese Lüge über die Lippen ging, falls das eine Lüge war, falls er nicht einfach ein Stück eines anderen Lebens preisgegeben hatte, das anderswo, in einer anderen Zeit stattgefunden hatte. Er war auf einmal dem Kind nicht mehr böse, trat in ein Spiel ein, das ihn erheitern würde, ja, er konnte sich hier die Biografie erfinden, die er wollte, warum auch nicht? Wer würde schon nachprüfen, ob er die Wahrheit erzählte? Er war ab sofort kein hartgesottener Junggeselle mehr, sondern ein armer Witwer (fühlte er sich nicht genau so?), der Ruhe und Trost braucht, seiner fiktiven Frau würde er Paulas Aussehen verleihen, falls man ihn bitten sollte, von ihr zu erzählen, und er musste sich zusammennehmen, um nicht breit zu lächeln, als er Martins Mutter vor sich in ihrer farbigen Pracht auferstehen lieÃ. Ich habe einen erwachsenen Sohn, sagte er, Martin, der Biologie studiert. Sollte die Familie ihn nach seinem Beruf fragen, könnte er auch erzählen, er sei Zahnarzt oder Chemiker, oder Schauspieler oder Dichter, ja, Dichter, Schriftsteller, wäre eine fantastische Erfindung und entspräche seiner neuen Lust am Fantasieren, und in der Tat kam jetzt die Frage von Herrn Suter, ob der Gast im Ruhestand sei, eigentlich eher eine Behauptung, denn er hatte es vielleicht von seiner Frau gehört oder aus Bodins Alter geschlossen. In meinem Beruf, schmunzelte charmant der Psychotherapeut, ist man nie pensioniert, und da seine Gastgeber aufrichtig interessiert dreinblickten, sogar Marion, fügte er leicht aufgeregt hinzu, dass er Schriftsteller sei, er stotterte, als er hinzufügte: Ich schreie Bücher, Sie meinen, sagt die Frau höflich vorsichtig, Sie schreiben Bücher ⦠Bodins Schmunzeln breitete sich zu einem Lachen aus, als er seinen Freudâschen Versprecher bemerkte, der ihn begeisterte: Ja, klar, er schreibe Bücher, Romane (und sah Paulas »Roman meines Lebens« vor sich). Noch nie hatte er Fiktives geschrieben (wenn man von seinen Notizen über die Spinnereien seiner Patienten absah), er würde es aber ab sofort tun, dachte er, seine Berufserfindung war keine Lüge, sondern nur ein Vorgreifen, die erste Zeile seiner Zukunft. Und die Frau fragte mit ihrem Familienmutterlächeln, worüber er denn Bücher schreibe. Zurzeit recherchiere ich nur, sagte er, der nächste Roman wird in der Schweiz spielen, ich muss mich also kundig machen, Ihre schöne Gegend wird mich zweifellos inspirieren. Ja, insistierte Christine und wirkte echt interessiert, aber Sie können uns bestimmt etwas von der Handlung verraten, oder? Der Kater SoumSoum war auf den Tisch gesprungen und wurde von Christine nicht sehr energisch verjagt. Sie nahm ihn auf den Schoà und kraulte ihm das Fell. Das Schnurren des Tiers begleitete Bodins Worte: Es könnte die Geschichte eines Mädchens werden, das von ihrem verrückten Psychotherapeuten umgebracht wird, er
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