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Bodin Lacht

Bodin Lacht

Titel: Bodin Lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvie Schenk
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schwimmen können, denn Gefängnisse mit Schwimmbad existierten nicht.
    Die Einsamkeit lauerte auf der Schwelle des Schwimmbadtors.
    Mit einer Einbrecherseele und den Atem anhaltend betrat er Bodins Wohnung.

FELD 44: UMORIENTIERUNG
    Ich ist ein anderer.
    A RTHUR R IMBAUD,
Brief an Paul Demeny, 15. Mai 1871
    Bodin war durch das Dorf gegangen. Unter seinen Sohlen knirschte der Schnee. Er hatte das Haus eines Bergführers gefunden. Ein geschnitzter Briefkasten aus Zirbenholz mit hübschen Motiven, einer Sonne, einem Zweig. In dem kleinen Dorf wohnten zwei Bergführer und drei Skilehrer. Christine Droemer könnte aber den Bergführer eines anderen Dorfes geheiratet haben. Wie viele Bergführer gab es in diesem Tal? Der Briefkasten faszinierte ihn, die Sonnenschnitzerei vielleicht, in der sich die echte Sonne eingebrannt hatte, das dunkelgrau gewordene Lärchenholz. Sollte er klingeln? Nach Christine Droemer fragen? Zwei sechs- oder siebenjährige Kinder mit Schulranzen tauchten auf, schauten ihn misstrauisch an: Weit dir zu öis? Dr Papa isch aber noni do. Ach, dann komme ich später oder morgen vorbei, sagte Bodin schnell, kein Problem. Er ging, spürte Blicke hinter den Fenstern, hier und da bewegte sich eine Gardine, huschte ein Schatten hinter einem Fenster, die Sonne ging unter, er fror und seine Nase begann zu laufen. Er stand an einer Kreuzung und wusste nicht wohin, sah ein riesiges Kreuz, dessen Umrisse sich scharf gegen den Sonnenuntergang abhoben, und wurde fotografierend wieder zum unbeschwerten Urlauber. Er hatte vergessen, Handschuhe anzuziehen und blies sich auf die Finger. Spiele ich den Touristen oder bin ich der Tourist? Vor ihm standen mehrere hübsche Chalets. Ob Christine in einem von ihnen am Kamin strickte oder nähte oder ihr Kind bei den Hausaufgaben beaufsichtigte, ob sie sich an die blasse deutsche Patientin erinnerte, die sie damals gewesen war, an die erfolglose Therapie bei ihm, dem liebenden Therapeuten, ob sie seine Gesichtszüge noch abrufen konnte, die des Mannes, der sich ihrer erbarmte und ihr den Tod schenken wollte, falls die langen sommerlichen Irrungen in den Bergen keine Früchte brächten?
    Als er zum Chalet seiner Wirtin zurückkam, war die Straße hart und rutschig, Berge und Dorf waren in die Dämmerung eingehüllt. Auf dem Dorfplatz traf er auf ein Schulmädchen, elf oder zwölf Jahre alt, das aus dem Bus ausstieg und ihn überrascht ansah, als sie zusammen das Chalet betraten. Die Mutter stellte ihn vor, und die Göre, die Marion hieß und ihren roten Anorak aufhängte, bevor sie ihm die Hand reichte, schaute ihn misstrauisch an. Auf der Treppe zu seinem Zimmer meinte er, sie flüstern zu hören, dass er »bizarre« aussehe, oder »bizarr« oder »seltsam«, aber vielleicht hatte das Kind etwas ganz anderes gesagt, auf jeden Fall etwas Freches, denn die Mutter hatte es zur Ordnung gerufen, so streng aber wiederum nicht, er glaubte, ein Quäntchen Verständnis für das dreiste Kind herausgehört zu haben. In seinem Zimmer betrachtete er sich lange im Spiegel und rasierte sich sorgfältig, seifte sich ein, duschte lange und sprühte Deodorant unter die Achseln. Er manikürte seine Nägel, zog ein frisches Hemd an, würde seine Gastgeberin fragen, ob es hier eine Wäscherei gab oder ob er die Waschmaschine der Familie benutzen durfte. Man bat ihn um neunzehn Uhr zum Abendtisch, wo eine dampfende Suppenschüssel die Familie und den Gast erwartete. Inzwischen war auch der Familienvater angekommen, der ihn breit lächelnd willkommen hieß und »zur Feier des Tages« eine Flasche Weißwein entkorkte. Ein freundlicher Mann mit Kinnbart und starken Händen, der sich sichtlich über seine Anwesenheit freute. Er schien sein Töchterchen zu verehren, die kleine Ikone aber (warum mochte Bodin das Kind nicht? Er fiel eine Rutsche lang in einen Sandkasten und fand nicht sofort, was er suchte, bis doch ein weißes Kleidchen aufleuchtete, das Kleidchen des Miststücks Clothilde) beantworte keine seiner Fragen und zeigte unverhüllt seine schlechte Laune. Sie schaute von der Seite nach dem Gast, den sie, anscheinend, gar nicht willkommen hieß. Ihre Eltern gaben sich Mühe, mit ihm ein Gespräch zu führen, erzählten von den Schwierigkeiten des Straßenverkehrs hier, die Straße sei zu oft wegen Schneefalls, Überschwemmungen oder wegen eines Erdrutsches

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