Herbst - Ausklang (German Edition)
1
Jessica Lindt starb drei Tage vor ihrem 32. Geburtstag. Das war vor fast einem Monat. Seither hat sie jede Sekunde jedes Tages damit verbracht, ziellos umherzuwandern, oft in Scharen anderer Leichen, manchmal zu den wenigen verbliebenen Anzeichen von Leben in der ansonsten toten Leere von einer Welt. Jessica hatte keine Ahnung mehr, wer oder was sie war – sie existierte nur noch. Zwar reagierte sie auf die unregelmäßigen Bewegungen und Geräusche rings um sie, doch sie wusste nicht, weshalb oder wie. Und dennoch blitzte gelegentlich irgendwie eine Erinnerung auf. In ihrem abgestumpften, verwesenden Gehirn sah sie manchmal Dinge. Es handelte sich nur um flüchtige Gedächtnisfetzen, die kurz auftauchten und wieder verschwanden, bevor ihr überhaupt klar wurde, dass sie da gewesen waren. Bruchteile von Sekunden lang währende Erinnerungen daran, wer sie früher einmal war.
Natürlich hatte sich ihr Körper bis zur Unkenntlichkeit verändert. An Stellen, wo die Schwerkraft die vermodernden Gedärme nach unten zog, hatten sich Ausbuchtungen gebildet, andere Bereiche waren trocken und brüchig geworden. Sie trug immer noch die Überreste ihres Jogginganzugs aus Elastan, in dem sie gestorben war. Ihre Füße waren angeschwollen und klobig, die dunkel verfärbten Fußgelenke muteten beinah wie die eines Elefanten an. Ihr aufgedunsener Bauch hing schlaff nach unten, aufgebläht von Gasen, die durch Verwesung und erheblichen Insektenbefall entstanden waren. Die fleckige Haut war einige Zentimeter unter der sackartigen rechten Brust aufgebrochen und ließ alle möglichen, halb geronnenen, gelblichen und braunen Flüssigkeiten hervorquellen.
Jessicas niemals blinzelnde Augen waren ausgetrocknet und trüb, dennoch konnte sie sehen. Die Bewegung des einsamen Überlebenden, der in dem Haus vor ihr stand, genügte hinlänglich, um ihre beschränkte Aufmerksamkeit zu erregen. Plötzlich wurde sie lebhafter und schlurfte geradezu entschlossen auf das kleine Reihenhaus zu, bevor sie heftig gegen ein Fenster stieß, davon zurückprallte und am Rinnstein auf dem Hintern landete. Sie befand sich nur wenige Sekunden auf dem Boden, bevor andere sie angriffen, die der Lärm angelockt und zu der Vermutung verleitet hatte, sie wäre irgendwie anders als sie. Die Reste von Jessica Lindts Körper wurden in Stücke gerissen, und bald blieben von ihr nur noch ein Abdruck auf dem Glas, einige Klumpen öligen Fleisches und eine große, zähflüssige Lache übrig, durch die andere ihrer Art schwerfällig hindurchstapften.
Der Überlebende stand auf der anderen Seite des Fensters und warte, bis sich das kurze Chaos draußen wieder legte. Sein Name war Alan Jackson, sein Glaube an die menschliche Natur so gut wie erschöpft – es lebte ohnehin nur noch eine Handvoll anderer Menschen. Seit gefühlten Stunden stand er im von Schatten erfüllten Wohnzimmer des verwaisten Hauses und starrte auf die weitläufige Masse mehrerer tausend Leichen hinaus, die sich schier endlos vor ihm erstreckte. Dabei fragte er sich, wie er durch sie hindurchgelangen und unversehrt die andere Seite erreichen sollte. In weiter Ferne konnte er sein beabsichtigtes Ziel sehen. Zehntausende Fliegen, die wie Hitzeflimmern über den unzähligen verwesenden Schädeln durch die Luft schwirrten, verzerrten seine Aussicht auf die uralte Burg. Er hoffte bei Gott, dass es das Risiko wert sein würde – nicht, dass er je an Gott geglaubt hatte, so lange er zurückdenken konnte. Und erst recht nicht seit Anfang September.
In den dreieinhalb Wochen, seit die Bevölkerung des Landes – und höchstwahrscheinlich des gesamten Planeten – auf weniger als ein Prozent ihrer ursprünglichen Zahl geschrumpft war, hatte Jackson gedacht, bereits alles gesehen zu haben. Seit dem Moment, als der Rest der Welt rings um ihn einfach tot umgefallen war, bis zu diesem Augenblick heute hatte sein Leben einem unablässigen Tumult aus Tod und Verfall geglichen. Das Chaos war überall. Es umgab ihn ständig, was immer er tat, wohin er sich auch wandte. Man konnte ihm nicht entrinnen. Und er hatte es so verdammt satt.
Eine weitere Leiche wankte am Fenster vorbei. Ein zuckender, verdorrter Stumpf befand sich dort, wo einst der rechte Arm gewesen war. Gott, wie er diese verfluchten Kreaturen hasste. Er hatte beobachtet, wie sie sich praktisch jeden Tag veränderten, nach und nach ein gewisses Maß an Selbstkontrolle zurückerlangten und sich von lethargischen, leeren Hüllen aus wiederbelebtem
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