Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bodin Lacht

Bodin Lacht

Titel: Bodin Lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvie Schenk
Vom Netzwerk:
(anstatt ihre Zunge zu hüten), diese feine Kriminalistin mit ihrem großen Gespür sei dabei, die Situation zugunsten ihres Sohnes umzukehren und den Fall zu lösen. Inzwischen, um ihre Ängste um Martin zu bekämpfen, trank sie Grog mit dem Putzmädchen, das nicht mehr putzte, spielte Karten und Scrabble mit der Studentin, die Paula auf dem Laufenden der heutigen Zeit hielt und ihr vorschlug, gegen Bezahlung den »Roman meines Lebens« auf ihren Computer zu übertragen. Paula lehnte ab, ihr Text bestehe nicht nur aus Worten, sondern aus ihrer Handschrift, aus Farben und wohlriechendem Papier und der Substanz der Tinte. Sie habe, sagte sie, ihre Flügel zwischen den Zeilen ausgebreitet, die kein Computer erfassen könne. Ja dann, sagte Simone.
    Sie hatte per Internet zwei neue Mütter Teresa für Martin bestellt und, um ihm näher zu sein, sich lange Zeit in Fischbilder vertieft. Mit Tobias Wildenhain hatte sie Kaffee getrunken, der ihr seine neue CD geschenkt hatte (sie kaufte ihm sofort zehn weitere für ihren Bekanntenkreis ab). Beide waren gesittet im Wohnzimmer geblieben, an einem Glas Whisky nippend, und hatten sich unleidenschaftlich über Musik, Bücher und seine Karriere unterhalten. Als Tobias begann, von Martin zu sprechen, schnitt sie ihm sofort das Wort ab und behauptete, es würde sich bald alles klären. Ihre Stimme klang scharf wie ein Hackbeil und Tobias Wildenhain sah, wie das Stadtgerede vor ihm gehäckselt und in die Luft gepustet wurde. Als sich das Gespräch daraufhin schnell erschöpfte, suchte Paula fieberhaft nach weniger explosiven Themen, indem sie das Alphabet für sich herunterspulte. A wie Arbeit, B wie Betrüger, C wie China, D wie Dschungel und so weiter. Jedes Thema wurde schnell abgehakt. Bei K wie Küssen hatte sie komischerweise Sehnsucht nach Bodin gespürt und Tobias verabschiedet.
    In diesen drei Tagen und trotz Simones Gesellschaft oder ihren eigenen Bemühungen, Haltung zu bewahren, verstärkte sich Paulas Gefühl der Ohnmacht und der Nichtigkeit der eigenen Existenz. Im »Roman meines Lebens« kam sie zu der radikalen Schlussfolgerung: Wenn man beginnt, mit seinen Bekannten nach Gesprächsthemen zu suchen, das eine nach dem anderen wie Garn abhaspelt, bedeutet es das Ende des Lebensfadens.
    Zwei Tage aber nach Lilianes Besuch las sie die erste gute Nachricht in der Zeitung, sie lebte auf und dachte daran, eine große Fete zu organisieren. Die bösen Wolken zogen weg, das Drama war dabei, sich zu entwirren und aufzulösen. Nie mehr würde sie denken, sie sei unglücklich, einsam, nie mehr, da ihr Sohn jetzt wieder frei und mit erhobenem Haupt zu ihr kommen konnte. Sie würde das fließende, sinnvolle, alltägliche Leben und jeden Besuchstag ihres Sohnes wie den Tag seiner Geburt genießen.

FELD 55: SCHUPPEN
    Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald.
Es war so finster und auch so bitter kalt.
    Lied, A NONYM
    Zum zweiten Mal in seinem Leben hielt Martin eine schluchzende Frau in seinen Armen. Seine Mutter weinte selten und er traute sich nicht, sie dabei zu berühren. Es war vor zehn Jahren. Ich war achtzehn, erzählte Liliane, befreite sich aus der Umarmung und deutete auf Christine Droemers Akten. Achtzehn und drei Monate. Sie putzte sich die Nase laut, schaute vor sich hin. Sie hatte sich auf die Couch gesetzt und Martin setzte sich zu ihr, betrachtete sie von der Seite: ihre gerötete Nase, ihre zusammengepressten Lippen, ihr Haar, an den Wurzeln noch ein bisschen feucht vom Schnee. Sie waren Hans und Gretel, dachte er, und nahm nach kurzem Zögern ihre Hand – und fühlte sich selbst eher als Gretel. Das Leben war ein verdammtes Hexenhaus. Welcher Schuft hatte Liliane so kaputt gemacht, dass diese Revolverfrau heute vor ihm zusammenbrach? Er hatte die Vision einer Erde voller Löcher, Krater, Fallen, jeder Mensch trug eine Kapuze voll Dunkelheit, die ihm das Gesicht verfinsterte. Ich bin auch ein Patient von Bodin, sagte er endlich. Liliane wischte sich eine neue Träne ab. Das wundert mich nicht, sagte sie und klang schon frecher. Ich erzähle dir in fünf Minuten, was ich zwei Jahre lang deinem Bodin mitgeteilt habe.
    Ich bin, sagte sie, zu einem Abifest bei Robin, einem Mitschüler, eingeladen worden. Ein schöner Junge, nicht blöd, schicke Eltern, die so feinfühlig waren, sich für die Nacht abzumelden. Ich gehörte zu den besten Schülerinnen

Weitere Kostenlose Bücher