Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Unversöhnlichen. Man machte sogar Anstalten, ihm nachzulaufen und ihn festzuhalten. Sie zu besänftigen wäre unmöglich gewesen, jedenfalls in diesem Augenblick, aber da – barst die letzte Katastrophe wie eine Bombe über den Köpfen der Versammelten: Der dritte Vortragende, jener Besessene, der hinter den Kulissen unentwegt die Faust geschwenkt hatte, stürmte plötzlich auf das Podium.
Er sah aus wie ein Wahnsinniger. Mit breitem, triumphierendem Grinsen, voll grenzenloser Selbstsicherheit, betrachtete er den erregten Saal und schien sich über das Durcheinander zu freuen. Es störte ihn nicht, bei einem solchen Aufruhr vortragen zu müssen, im Gegenteil, er fand offensichtlich Gefallen daran. Das war so unverkennbar, daß er sofort die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zog.
»Was ist denn das?« hörte man fragen. »Wer ist denn das? Ruhe! Was will der denn sagen?«
»Meine Herrschaften!« schrie der Monomane mit voller Lautstärke vom äußersten Rand des Podiums herunter, mit einer beinahe ebenso hohen weibischen Stimme wie Karmasinow, nur ohne dessen affektiertes vornehmes Lispeln. »Meine Herrschaften, vor zweiundzwanzig Jahren, am Vorabend eines Krieges gegen das halbe Europa, war Rußland das Ideal sämtlicher Staats- und Geheimräte. Die Literatur war bei der Zensur angestellt; an den Universitäten lehrte man Exerzieren; das Heer verwandelte sich in ein klassisches Ballett, das Volk zahlte Steuern und schwieg unter der Knute der Leibeigenschaft. Der Patriotismus äußerte sich im Einstreichen von Bestechungen, und zwar von Toten und Lebendigen. Wer auf Bestechung verzichtete, galt als Aufrührer, denn er störte die allgemeine Harmonie. Die Birkenwälder wurden zur Erhaltung der Ordnung abgeholzt. Europa zitterte … Aber noch nie während des ganzen sinnwidrigen Jahrtausends seines Bestehens war Rußland auf einen solchen Tiefpunkt der Schande gesunken …«
Er hob die Faust, schwenkte sie begeistert und drohend über dem Kopf, um sie dann plötzlich wütend niedersausen zu lassen, als wollte er einen Gegner in Grund und Boden schmettern. Ein ohrenbetäubender Schrei ertönte von allen Seiten, ein ohrenbetäubender Beifall folgte. Jetzt klatschte beinahe die Hälfte aller Anwesenden; die Unschuldigsten ließen sich hinreißen: Rußland wurde gebrandmarkt, öffentlich, vor aller Ohren, wie sollte man da nicht vor Begeisterung brüllen?
»Endlich das Richtige! Was richtig ist, ist richtig! Hurra! Ja, endlich mal keine Ästhetik!«
Der Monomane fuhr begeistert fort:
»Zwanzig Jahre sind vergangen. Die Tore der Universitäten stehen offen, ihre Zahl hat sich vermehrt. Exerzieren gehört ins Reich der Legende; Tausende von Offiziersstellen sind unbesetzt. Die Eisenbahn hat das ganze Kapital verschlungen und Rußland wie mit einem Spinnennetz überzogen, so daß man vielleicht in fünfzehn Jahren tatsächlich eine Eisenbahnreise wird riskieren können. Brücken brennen nur selten, während die Städte es regelmäßig tun, in festgelegter Reihenfolge, eine nach der anderen, in der Saison der Feuersbrünste. Bei den Gerichten werden salomonische Urteile gefällt, und die Geschworenen lassen sich nur dann bestechen, wenn sie am Hungertuche nagen, im Kampf ums Dasein. Die Leibeigenen sind frei und traktieren sich mit Ruten gegenseitig, nach Art der früheren Gutsherren. Meere und Ozeane von Wodka werden zugunsten des Staatsbudgets leergetrunken, und in Nowgorod, vis-à-vis der uralten, nutzlosen Sophien-Kathedrale, errichtet man eine kolossale Bronzekugel zu Ehren des Millenniums der bereits zurückgelegten Unordnung und des Widersinns. Europa runzelt die Brauen und beginnt, sich von neuem zu fürchten … Fünfzehn Jahre Reformen! Indessen war Rußland noch niemals, auch nicht in den lächerlichsten Epochen seiner widersinnigen Geschichte, so tief …«
Seine letzten Worte gingen im Beifallsgebrüll der Menge unter. Man sah lediglich, wie er wieder den Arm hob und ihn noch einmal triumphierend niedersausen ließ. Die Begeisterung überschritt alle Grenzen: Man schrie, klatschte in die Hände, und sogar einige Damen riefen: »Genug! Etwas Besseres werden Sie nicht sagen!« Alle waren wie berauscht. Der Redner ließ seine Blicke über die Köpfe schweifen und schien in seinem Triumph dahinzuschmelzen. Ich sah aus dem Augenwinkel, daß Lembke in äußerster Aufregung irgend jemand etwas auftrug. Julija Michajlowna, kreideweiß, redete hastig auf den Fürsten ein, der eilig zu ihr gelaufen war …
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