Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Aber in diesem Augenblick stürzte ein ganzer Trupp, etwa sechs Männer, mehr oder weniger offizielle Personen, aus den Kulissen auf das Podium, packte den Redner und schleppte ihn hinter die Kulissen. Es ist mir unbegreiflich, wie er sich befreien konnte, aber er befreite sich, sprang wieder an den äußersten Rand des Podiums und brüllte aus Leibeskräften, indem er die Faust schwenkte:
»Aber noch niemals war Rußland so tief …«
Aber man hatte ihn schon wieder gepackt. Ich sah, wie etwa fünfzehn Menschen herbeistürzten, um ihn hinter den Kulissen zu befreien, aber nicht über das Podium, sondern seitlich, wobei sie gegen die leichte Absperrung rannten und sie schließlich umwarfen …
Und dann, ich wollte meinen Augen nicht trauen, sah ich, wie plötzlich von irgendwoher die Studentin (Wirginskijs Verwandte) auf das Podium sprang, mit der Papierrolle unter dem Arm, im selben Kleid, ebenso rotbackig, ebenso wohlgenährt, in Begleitung von zwei oder drei Frauen, zwei oder drei Männern und ihres Todfeindes, des Gymnasiasten. Ich hörte noch den Satz:
»Meine Herrschaften, ich bin gekommen, um über die Leiden der unglücklichen Studenten zu berichten und sie allerorten zum Protest aufzurufen.«
Aber ich floh. Meine Schleife steckte ich in die Tasche und suchte den Weg aus dem Haus durch die Hintereingänge, die mir bekannt waren. Mein erster Gang war natürlich zu Stepan Trofimowitsch.
Zweites Kapitel
Das Ende der Festlichkeiten
I
ER empfing mich nicht. Er hatte sich eingeschlossen und schrieb. Auf mein wiederholtes Klopfen und Rufen antwortete er durch die Tür:
»Mein Freund, ich habe mit allem abgeschlossen, wer kann von mir noch etwas verlangen?«
»Sie haben mit gar nichts abgeschlossen, sondern nur Ihren Teil dazu beigetragen, daß alles ein Fiasko wurde. Verschonen Sie mich um Gottes willen mit Calembours, Stepan Trofimowitsch; schließen Sie auf! Sie müssen Vorsichtsmaßnahmen treffen; die könnten kommen und Sie beleidigen …«
Ich glaubte, das Recht zu haben, besonders streng und sogar fordernd aufzutreten. Ich fürchtete, er könnte eine noch größere Torheit begehen. Aber zu meinem Erstaunen stieß ich auf eine ungewohnte Festigkeit:
»Dann sollten Sie mich nicht als erster beleidigen. Ich danke Ihnen für alles Frühere, aber ich wiederhole, daß ich mit den Menschen abgeschlossen habe, mit den Guten und mit den Bösen. Ich schreibe einen Brief an Darja Pawlowna, die ich in unverzeihlicher Weise vernachlässigt habe. Wenn Sie es wünschen, können Sie ihn morgen abgeben, für jetzt aber ›merci‹.«
»Stepan Trofimowitsch, ich versichere Ihnen, es steht ernster um Sie, als Sie glauben. Sie denken, Sie hätten dort jemand auf den Kopf geschlagen? Aber Sie haben niemand auf den Kopf geschlagen, sondern Sie sind selber zerbrochen, wie eine leere Flasche.«
(Oh, ich war grob und unhöflich; ich erinnere mich dessen mit Betrübnis!)
»Es besteht überhaupt kein Anlaß, an Darja Pawlowna zu schreiben … Und was wollen Sie jetzt ohne mich tun? Wie wollen Sie mit dem praktischen Leben fertig werden? Sie haben sicherlich noch etwas vor? Sie werden noch einmal ein Fiasko erleben, wenn Sie sich wieder etwas vornehmen …«
Er stand auf und trat dicht an die Tür heran.
»Sie sind nicht lange mit ihnen zusammen gewesen, aber Sie haben sich bereits mit ihrer Sprache und ihrem Ton angesteckt, Dieu vous pardonne, mon ami, et Dieu vous garde ! Aber ich habe an Ihnen schon immer einen Keim des Anstandes bemerkt, und Sie werden sich vielleicht noch einmal besinnen, après le temps , selbstverständlich, wie wir alle, wir Russen. Und was Ihre Bemerkung über meinen Mangel an praktischem Sinn angeht, möchte ich Sie an einen meiner früheren Gedanken erinnern: Bei uns in Rußland lebt eine Unzahl Menschen allein davon, daß sie mit Schaum vor dem Mund und aufdringlich wie die Sommerfliegen über den Mangel an praktischem Sinn bei anderen herfallen und ihn allen und jedem zum Vorwurf machen, ausgenommen die eigene Person. Cher, bedenken Sie, daß ich erregt bin, und quälen Sie mich nicht. Noch einmal merci für alles, und lassen Sie uns voneinander scheiden wie Karmasinow vom Publikum, das heißt so großherzig einander vergessen wie eben möglich. Das war eine List von ihm, er hat seine ehemaligen Leser viel zu sehr ums Vergessen angebettelt; quant à moi , ich bin nicht so ehrgeizig und verlasse mich am meisten auf die Jugendfrische Ihres unerfahrenen Herzens: Wie sollten Sie sich lange
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