Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
als sei er zu allem entschlossen, aber gleichzeitig mit beinahe versagender Stimme: »Meine Herrschaften! Heute morgen erst lag eines dieser kürzlich hier verbreiteten gesetzwidrigen Blätter vor mir, und ich stellte mir zum hundertsten Mal die Frage: ›Worin besteht sein Geheimnis?‹«
Im ganzen Saal wurde es schlagartig still, sämtliche Blicke richteten sich auf den Redner, manche erschreckt. Dagegen war nichts einzuwenden, er hatte die Gabe, die Zuhörer mit dem ersten Wort zu fesseln. Sogar aus den Kulissen wurden einige Köpfe herausgestreckt; Liputin und Ljamschin lauschten gierig. Julija Michajlowna winkte mich abermals zu sich.
»Halten Sie ihn zurück, um Gottes willen, halten Sie ihn zurück!« flüsterte sie in großer Aufregung. Ich konnte nur mit den Schultern zucken; wie konnte man einen Menschen zurückhalten, der entschlossen war? O weh, ich hatte Stepan Trofimowitsch verstanden.
»Aha, über die Proklamationen!« raunte das Publikum; der ganze Saal spitzte die Ohren.
»Meine Herrschaften, ich habe das Geheimnis entdeckt. Das ganze Geheimnis ihrer Wirkung – liegt in ihrer Dummheit!« (Seine Augen funkelten.) »Jawohl, meine Herrschaften, wäre diese Dummheit eine vorsätzliche, eine falsche, aus Berechnung – oh, das wäre sogar genial! Aber man muß ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen: Sie haben nicht gefälscht. Es ist die nackteste, einfältigste, kurzsichtigste Dummheit – c’est la bêtise dans son essence la plus pure, quelque chose comme un simple chimique . Wäre das alles auch nur eine Spur klüger ausgedrückt, dann könnte jeder auf den ersten Blick die ganze Armseligkeit dieser kurzsichtigen Dummheit erkennen. Aber jetzt bleiben alle staunend davor stehen: Keiner will glauben, daß es sich um eine derart elementare Dummheit handelt. ›Es ist ausgeschlossen, daß nichts dahintersteckt‹, sagt sich jeder und sucht nach etwas Verborgenem, ahnt ein Geheimnis, möchte zwischen den Zeilen lesen – und dann haben sie den Effekt erreicht! Oh, niemals wurde die Dummheit so feierlich gekrönt, obwohl sie es schon oft verdient hätte … Weil, en parenthèse, die Dummheit für das Schicksal der Menschheit ebenso unentbehrlich ist wie das höchste Genie …«
»Ein Calembour aus den vierziger Jahren«, ließ sich eine übrigens bescheidene Stimme vernehmen, aber unmittelbar darauf schien der Damm zu brechen; es wurde laut, man redete durcheinander.
»Meine Herrschaften, hurra! Einen Toast auf das Wohl der Dummheit!« rief Stepan Trofimowitsch, inzwischen völlig außer sich, herausfordernd in den Saal hinein. Ich stürzte zu ihm, unter dem Vorwand, ihm Wasser einzuschenken.
»Stepan Trofimowitsch, lassen Sie das! Julija Michajlowna fleht Sie an …«
»Nein, lassen Sie mich, Sie junger Müßiggänger!« wehrte er in voller Lautstärke ab. Ich stürzte davon. »Messieurs«, fuhr er fort, »warum die Aufregung? Warum die Rufe des Unmuts, die ich hören muß? Ich komme mit dem Ölzweig. Ich bringe das letzte Wort, denn ich weiß in dieser Sache das letzte Wort – und wir versöhnen uns.«
»Raus!« brüllten einige.
»Ruhe, laßt den Mann sprechen, er soll reden!« schrien andere. Besonders aufgeregt war der blutjunge Lehrer, der, nachdem er einmal sich ein Herz gefaßt hatte zu reden, offensichtlich nicht wieder aufhören konnte.
»Messieurs, das letzte Wort in dieser Sache ist die Allvergebung. Ich, ein Greis, der das Leben hinter sich hat, ich erkläre feierlich, daß der Geist des Lebens weht wie eh und je und daß die lebendige Kraft in der jungen Generation noch nicht versiegt ist. Der Enthusiasmus der heutigen Jugend ist ebenso rein und licht wie in unseren Tagen. Nur eines ist eingetreten: Die Ziele haben sich gewandelt, und eine Schönheit ist gegen eine andere vertauscht worden! Ungewiß ist nur, was schöner sei: Shakespeare oder ein Paar Stiefel, Raffael oder Petrol ?«
»Ist das eine Anzeige?« knurrten die einen.
»Kompromittierende Fragen!«
»Agent provocateur!«
»Dagegen erkläre ich«, Stepan Trofimowitschs Stimme überschlug sich vor höchster Erregung, »dagegen erkläre ich, daß Shakespeare und Raffael mehr bedeuten als die Aufhebung der Leibeigenschaft, mehr als der Volkscharakter, mehr als der Sozialismus, mehr als die junge Generation, mehr als die Chemie, mehr fast als die gesamte Menschheit, denn sie sind schon die Frucht, die wahre Frucht der gesamten Menschheit und vielleicht die höchste Frucht, die es nur geben kann! Eine schon
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