Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
neigt aber auch zur Phrasendrescherei; er spricht viel und gern, und wenn die Rede auf Kenntnis des Volkes und seiner revolutionären (?) Elemente kommt, so setzt er sich sogar in Positur und giert nach Effekt. Er soll, wie man hört, ebenfalls beabsichtigen, beim Prozeß eine Rede zu halten. Überhaupt wirken er und Liputin keineswegs eingeschüchtert, und das ist schon eigenartig.
Ich wiederhole, die Sache ist noch nicht ausgestanden. Jetzt, drei Monate später, hat sich unsere Gesellschaft wieder erholt, hat aufgeatmet, ausgeruht und ist wieder im Besitz einer eigenen Meinung, einer so eigenen, daß manche Pjotr Stepanowitsch sogar für ein Genie halten, ihm wenigstens »geniale Fähigkeiten« attestieren. »Das ist Organisation!« pflegt man im Club mit erhobenem Zeigefinger zu sagen. Übrigens ist das alles völlig harmlos, und es sind auch nur wenige, die das sagen. Andere dagegen möchten zwar seine extremen Talente nicht in Abrede stellen, betonen aber seine völlige Unkenntnis der Wirklichkeit, seine schreckliche Abstraktheit, seine verderbliche, abnorm einseitige Entwicklung und den daraus resultierenden außerordentlichen Leichtsinn. Über seine moralischen Qualitäten ist man sich einig; darüber diskutiert man nicht mehr.
Wirklich, ich weiß nicht, wen ich noch zu erwähnen hätte, um niemanden zu vergessen. Mawrikij Nikolajewitsch hat uns endgültig verlassen. Die alte Drosdowa ist kindisch geworden … Übrigens bleibt noch eine sehr düstere Geschichte zu erzählen. Ich beschränke mich auf die Tatsachen.
Warwara Petrowna war nach ihrer Rückkehr in ihrem Stadthaus abgestiegen. Alle Neuigkeiten, die sich inzwischen angesammelt hatten, stürmten auf sie ein und erschütterten sie entsetzlich. Sie schloß sich in ihren Räumen ein. Der Abend brach an; alle waren müde und gingen zeitig zu Bett.
Am nächsten Morgen überreichte ein Zimmermädchen Darja Pawlowna mit geheimnisvoller Miene einen Brief. Dieser Brief sei, nach ihren Worten, schon gestern abend angekommen, aber spät, als alle sich bereits zurückgezogen hätten, so daß sie nicht gewagt habe, Darja Pawlowna zu wecken. Der Brief sei nicht mit der Post angekommen, sondern bei Alexej Jegorytsch in Skworeschniki von einem Unbekannten abgegeben worden. Und Alexej Jegorytsch habe ihn umgehend, noch gestern abend, pünktlich hergebracht, direkt in ihre Hände, und sei sofort nach Skworeschniki zurückgefahren.
Darja Pawlowna betrachtete lange klopfenden Herzens den Brief und wagte nicht, ihn zu öffnen. Sie wußte, von wem er war: Es war die Hand Nikolaj Stawrogins. Sie las die Aufschrift auf dem Couvert: »An Alexej Jegorytsch für Darja Pawlowna, vertraulich.«
Hier folgt dieser Brief, Wort für Wort, ohne Verbesserung des geringsten stilistischen Fehlers eines russischen Herrensohns, der das schriftliche Russisch nie richtig erlernt hat, ungeachtet seiner ganzen europäischen Bildung:
Liebe Darja Pawlowna,
Sie wollten einmal »Krankenwärterin« bei mir sein und nahmen mir das Versprechen ab, Sie zu rufen, wenn es sein muß. Ich reise in zwei Tagen ab und werde nicht zurückkommen. Wollen Sie mit?
Vor einem Jahr habe ich wie Herzen das Bürgerrecht des Kantons Uri erworben, und niemand weiß es. Dort habe ich schon ein kleines Haus gekauft. Ich besitze noch zwölftausend Rubel. Wir werden hinfahren und dort ewig leben. Ich will niemals irgendwohin verreisen.
Die Gegend ist sehr langweilig, ein enges Tal; die Berge beengen den Blick und den Gedanken. Sehr düster. Nur weil das kleine Haus zu kaufen war, deshalb. Wenn es Ihnen nicht gefällt, werde ich es verkaufen und ein anderes in einer anderen Gegend kaufen.
Ich bin nicht gesund, hoffe aber, in der dortigen Luft mich von den Halluzinationen zu befreien. Physisch; und moralisch wissen Sie alles; wirklich alles?
Ich habe Ihnen vieles aus meinem Leben erzählt. Aber nicht alles. Sogar Ihnen nicht alles! Übrigens bestätige ich, daß ich mit meinem Gewissen an dem Tod meiner Frau schuldig bin. Ich habe Sie seither nicht gesehen, deshalb bestätige ich es. Auch vor Lisaweta Nikolajewna bin ich schuldig; aber das wissen Sie. Das haben Sie fast alles prophezeit.
Sie kommen besser nicht. Daß ich Sie zu mir rufe, ist eine ungeheure Niedertracht. Und warum sollten Sie Ihr Leben mit mir begraben? Sie sind mir lieb, und ich fühlte mich, wenn mir schwer war, wohl an Ihrer Seite: Nur in Ihrer Gegenwart konnte ich von mir laut sprechen. Daraus braucht nichts zu folgen. Sie haben sich selbst zu
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