Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
bei.
Nikolaj Stawrogin
Darja Pawlowna begab sich unverzüglich zu Warwara Petrowna und zeigte ihr den Brief. Diese las ihn und bat Dascha, sie allein zu lassen, damit sie ihn noch einmal lesen könne; aber es dauerte nicht allzu lange, bis sie sie wieder rief.
»Wirst du fahren?« fragte sie beinahe schüchtern.
»Ich werde fahren«, antwortete Dascha.
»Mach dich fertig! Wir fahren zusammen!«
Dascha sah sie groß an.
»Was soll ich jetzt noch hier? Ist denn nicht alles gleich? Ich werde mich ebenfalls in Uri einkaufen und in dem Tal mein Leben beschließen … Mach dir keine Sorgen, ich werde euch nicht zur Last fallen.«
Es wurde eilig gepackt, um den Mittagszug noch zu erreichen. Aber es war noch keine halbe Stunde verstrichen, als Alexej Jegorytsch aus Skworeschniki erschien. Er meldete, Nikolaj Wsewolodowitsch seien heute morgen, »plötzlich«, eingetroffen, mit dem Frühzug, befänden sich jetzt in Skworeschniki, aber »in einer solchen Verfassung, daß sie auf keine Frage antworten, alle Räume durchschritten und sich in ihren Gemächern eingeschlossen haben …«
»Ich komme, ohne des Herrn Befehl abzuwarten, um dieses zu melden«, fügte Alexej Jegorytsch mit einer sehr ernsten Miene hinzu. Warwara Petrowna warf ihm eine durchdringenden Blick zu und fragte nicht weiter. Es wurde sofort angespannt. Sie hieß Dascha mitfahren. Unterwegs soll sie oft das Kreuz geschlagen haben.
»In ihren Gemächern« standen alle Türen sperrangelweit offen, aber Nikolaj Wsewolodowitsch war nirgends zu sehen.
»Ob der Herr vielleicht im Mezzanin sind?« fragte Fomuschka vorsichtig.
Es war bemerkenswert, daß einige Diener Warwara Petrowna in »ihre Gemächer« folgten; die anderen blieben wartend im Saal zurück. Niemals hätten sie früher gewagt, dermaßen gegen die Etikette zu verstoßen. Warwara Petrowna sah es und schwieg.
Man stieg in das Mezzanin hinauf. Dort waren drei Zimmer; aber sie waren alle leer.
»Sind der Herr vielleicht da raufgegangen?« mit diesen Worten zeigte jemand auf die Tür zum Dachstübchen. In der Tat, die stets verschlossene kleine Tür zum Dachstübchen war aufgeschlossen und stand sperrangelweit offen. Dahinter lag die lange, sehr schmale und furchtbar steile Holzstiege, bis fast unter das Dach. Dort befand sich ein weiterer Raum.
»Ich gehe nicht hinauf. Wozu soll er da hinaufgeklettert sein?« Warwara Petrowna war kreidebleich geworden und blickte sich nach den Dienern um. Sie sahen sie an und schwiegen. Dascha zitterte.
Warwara Petrowna stürzte die Stiege hinauf, Dascha hinter ihr her; kaum aber hatte sie das Stübchen betreten, schrie sie auf und sank bewußtlos zusammen.
Der Bürger des Kantons Uri hing unmittelbar hinter der kleinen Tür. Auf einem Tischchen lag ein Stück Papier, darauf die mit Bleistift geschriebenen Worte: »Niemand beschuldigen, ich selbst.« Daneben auf dem Tischchen lagen auch ein Hammer, ein Stück Seife und ein großer, augenscheinlich auf Vorrat besorgter Nagel. Die starke Seidenschnur, an der Nikolaj Wsewolodowitsch hing, war augenscheinlich mit Bedacht besorgt, gewählt und dick eingeseift worden. Alles deutete auf Vorsatz und klares Bewußtsein bis zum letzten Augenblick.
Unsere Mediziner haben nach Obduktion des Leichnams eine geistige Zerrüttung vollkommen und entschieden ausgeschlossen.
Anhang
Editorische Notiz
Die Übersetzung des 1871 erschienenen Romans »Bessy« (»Böse Geister«) folgt der Akademie-Ausgabe: F. Dostojewskij, Werke in 30 Bdn., Bd. X, Leningrad 1974.
Namenverzeichnis der wichtigsten Personen
Anton Lawrentjewitsch G—w, Beamter, der Chronist
Stepan Trofimowitsch Werchowenskij
Pjotr Stepanowitsch Werchowenskij (Petruscha, Pierre), sein Sohn
Nastassja, Stepan Trofimowitschs Magd (Stasie)
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Warwara Petrowna Stawrogina
Nikolaj Wsewolodowitsch Stawrogin (Nicolas, Nikolenjka)
Alexej Jegorowitsch (Jegorytsch), Kammerdiener im Hause von Warwara Petrowna
Fomuschka, Diener
Agascha, ihre Lieblingszofe
Darja Pawlowna Schatowa (Dascha, Daschka, Daschenjka), ihre Pflegetochter
Iwan Pawlowitsch Schatow (Schatuschka), Darjas Bruder, Sohn des Leibeigenen Pawel Fjodorow Schatow
Marja Ignatjewna Schatowa (Marie), seine Frau
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Praskowja Iwanowna Drosdowa, Gutsbesitzerin, Generalswitwe
Jelisaweta (Lisaweta) Nikolajewna Tuschina (Lisa), ihre Tochter aus erster Ehe
Mawrikij Nikolajewitsch Drosdow (Maurice), Artelleriehauptmann, Neffe des verstorbenen Generals
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Andrej Antonowitsch von Lembke,
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