Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
dem Gedränge für einen Augenblick stehenzubleiben; viele mußten stehenbleiben.
»Sie zittern, frieren Sie?« fragte plötzlich Warwara Petrowna, worauf sie ihren Burnus abwarf, den der Lakai im Fluge auffing, den schwarzen (keineswegs billigen) Schal von den Schultern nahm und ihn eigenhändig der immer noch knienden Bittstellerin um den bloßen Hals schlang.
»Aber stehen Sie doch auf! Sie dürfen nicht knien, ich bitte Sie!«
Jene erhob sich.
»Wo wohnen Sie? Weiß denn wirklich niemand, wo sie wohnt?« Warwara Petrowna sah sich von neuem ungeduldig im Kreise um. Aber die eben noch drängenden Menschen von vorhin waren verschwunden; sie sah nur wohlbekannte Gesichter aus der höheren Gesellschaft, die die Szene beobachteten, die einen streng und verwundert, die anderen mit hinterhältiger und gleichzeitig naiver Gier nach einem hübschen Skandal, wieder andere sogar bereit, sich zu amüsieren.
»Es ist, scheint’s, eine von den Lebjadkins«, schließlich fand sich eine gute Seele, die bereit war, Warwara Petrownas Frage zu beantworten, unser achtbarer und von vielen hochgeschätzter Kaufmann Andrejew, mit Brille und grauem Bart, in russischer Tracht und mit rundem zylinderähnlichem Hut, den er jetzt in der Hand hielt, »die logieren im Haus der Filippows, in der Bogojawlenskaja-Straße.«
»Lebjadkin? Haus Filippow? Ich habe schon etwas davon gehört … Vielen Dank, Nikon Semjonytsch, aber wer ist dieser Lebjadkin?«
»Der nennt sich Hauptmann, ein, man muß sagen, unbesonnener Mensch, und diese wird gewiß sein Fräulein Schwester sein und ist wohl seiner Aufsicht entwischt«, sagte Nikon Semjonytsch mit gesenkter Stimme und warf Warwara Petrowna einen vielsagenden Blick zu.
»Ich verstehe; haben Sie Dank, Nikon Semjonytsch. Sie sind Madame Lebjadkina, meine Liebe?«
»Nein; ich bin keine Lebjadkina.«
»Dann haben Sie vielleicht einen Bruder Lebjadkin?«
»Mein Bruder heißt Lebjadkin.«
»Ich tue folgendes: Ich nehme Sie jetzt mit, meine Liebe, und von mir aus wird man Sie zu Ihrer Familie bringen; möchten Sie mitkommen?«
»O ja, das möchte ich!« Madame Lebjadkina klatschte in die Hände.
»Tante, hören Sie, Tante? Nehmen Sie mich auch mit zu Ihnen!« ertönte die Stimme Lisaweta Nikolajewnas. Es sei hier erwähnt, daß Lisaweta Nikolajewna mit der Gouverneursgattin zum Gottesdienst erschienen war und daß Praskowja Iwanowna auf Anraten des Arztes inzwischen in ihrer Equipage spazierenfuhr und Mawrikij Nikolajewitsch zur Gesellschaft mitgenommen hatte. Lisa ließ plötzlich die Gouverneursgattin stehen und war mit einem Satz bei Warwara Petrowna.
»Du weißt, meine Liebe, es ist für mich immer eine Freude, dich bei mir zu sehen. Aber was wird deine Mutter dazu sagen?« fragte Warwara Petrowna gemessen, stutzte aber plötzlich, als sie die ungewöhnliche Erregung Lisas bemerkte.
»Tante, Tante, ich muß jetzt unbedingt mit!« flehte Lisa und küßte Warwara Petrowna.
» Mais qu’avez vous donc, Lise !« ließ sich die Gouverneursgattin mit betontem Erstaunen vernehmen.
»Ah, entschuldigen Sie, meine Beste, ma chère cousine, ich will jetzt zu meiner Tante«, wandte sich Lisa, schon im Gehen, zu ihrer unangenehm berührten chère cousine und küßte sie zweimal.
»Und richten Sie außerdem maman aus, sie möchte mich sogleich bei meiner Tante abholen; maman hatte unbedingt vor, dort einen Besuch zu machen. Sie hat es vorhin selbst gesagt. Ich habe nur vergessen, es Ihnen rechtzeitig zu erzählen«, plapperte Lisa, »es ist meine Schuld. Seien Sie mir nicht böse, Julie … chère cousine … Tante, ich bin bereit!«
»Wenn Sie mich nicht mitnehmen, Tante, werde ich hinter Ihrem Wagen herrennen und schreien!« flüsterte sie hastig und tollkühn in Warwara Petrownas Ohr; ein Glück, daß niemand es hörte. Warwara Petrowna wich sogar einen Schritt zurück und warf einen durchdringenden Blick auf das verrückte Mädchen. Dieser Blick entschied alles: Sie war nun unerschütterlich entschlossen, Lisa mitzunehmen!
»Jetzt muß ein Ende gemacht werden«, entfuhr es ihr. »Gut, es ist mir ein Vergnügen, dich mitzunehmen, Lisa«, fügte sie im selben Atemzug laut hinzu, »aber nur, wenn Julija Michajlowna bereit ist, es dir zu gestatten, selbstverständlich«, wandte sie sich mit offener Miene und natürlicher Würde unmittelbar an die Gouverneursgattin.
»Oh, da gibt es keinen Zweifel, daß ich ihr dieses Vergnügen gönnen möchte, um so mehr, da ich …«, plauderte plötzlich
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