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Böse Schafe: Roman (German Edition)

Böse Schafe: Roman (German Edition)

Titel: Böse Schafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Lange-Müller
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man einem lebenslänglichen Morphinisten die Schmerzen? Das ist doch die Frage, die wir uns hier jeden Tag stellen.«
    Ich nickte und hielt Wolfgang meine Camel – Packung hin. Was meinst du, sagte ich während wir rauchten, sollte ich Harry demnächst einen kleinen Fernsehapparat und eine Zimmerantenne mitbringen?
    »Klar«, antwortete Wolfgang, »warum nicht? Solange er noch sehen kann, ist Ablenkung sicher gut für ihn.«

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XIX
    »Ich brauche einen Schornsteinfeger, einen Feuerleger und einen Beschwerdebriefbeschwerer.
    Mondäne Dämonen …«
    Dann kam jener Novembertag, an dem die Ostberliner die Mauer einrannten. Die Ereignisse hatten mich, wie wohl die meisten Deutschen, doch allemal uns Berliner beider Stadthälften, völlig überrumpelt, und die folgenden zwei Wochen verbrachte ich im Ausnahmezustand. Meine Moabiter Einzimmerwohnung glich dem »Nachtlager von Granada«; Freunde, die ich seit 86 nicht mehr gesehen hatte, gaben einander die Klinke in die Hand. Ich kann nicht behaupten, daß ich mich unbändig freute. Mein einziges Privileg, das darin bestanden hatte, vor dem jähen Ende des »antifaschistischen Schutzwalls« in den Westen gegangen zu sein, fiel mit der Mauer. Ich fühlte mich, als säße ich in einem Zug, und sämtliche Bäume, an denen ich schon vorbeigefahren war, kämen mir plötzlich wieder entgegen. Aber aufregend war es schon; die Sekt-, Wein-, Bier- und Schnapsflaschen kreisten, und wer sich trotzdem nicht entblödete, nur Wasser zu trinken, torkelte ebenso besoffen durch die Gegend wie wir anderen. Während jener Tage, das mußt du mir verzeihen, dachte ich kaum einmal an dich. Immerhin schaffte ich es, am zwölften November – auf dem Weg zum Checkpoint Charlie – kurz bei dir vorbeizuschauen. Ich stürmte durch deine Tür, zwei Piccolo in den Händen. Harry, rief ich, warum guckst du nicht wenigstens TV?
    Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, daß ich nicht mehr dort draußen, sondern ganz woanders war – und du auch. Deine Vorhänge waren geschlossen, und das Licht, das gelblich getönt in dein Zimmer fiel, mischte sich mit dem Hellblau der Wände zu einem dumpfen Bleigrau, während die wenigen Möbelstücke fast schwarz wirkten. Dein Zimmer sah aus wie ein Schwarzweißfoto, auf dem ein blaßorangefarbenes Rechteck klebte.
    Du saßest unter der Bettdecke, die Fensterwand und drei Kissen im Rücken, und betrachtetest kopfschüttelnd den rechten deiner mageren Unterarme. Ich trat langsam näher, sagte: Hallo, Harry, ich bin’s.
    Du blicktest zu mir, sagtest »ach, Bärchen, ich versteh das nicht«, und schautest wieder deinen Arm an. Zeig mal her, sagte ich und sah nun auch die zwei roten Male, die irgendwie großflächigen Schürfwunden ähnelten, aber keine sein konnten. Wie mir Wolfgang später erklärte, verursachte ein Hautpilz, gegen den dein geschwächtes Immunsystem wehrlos war, diese Ekzeme, die du überall hättest, »an Bauch, Rücken, Beinen und – besonders unangenehm – im Genitalbereich«. Wir schauten nun beide auf deine Arme, schwiegen und hörten von draußen das Hämmern, die Rufe, die Hubschrauber, bis du heiser flüstertest: »Ich weiß, bei euch drüben zieht jetzt der Suffkopp Krenz die Strippen, und Honecker und die Zonengrenze sind weg, nur ich bin noch hier. Eigentlich hatte ich geplant, daß auch mal ein Westberliner an der Mauer stirbt, doch das scheint ja nun nicht mehr zu klappen. Schlechtes Timing – von euch oder mir.«
    Du verfielst wieder in Schweigen, und ich brach in Tränen aus. Ich lag an deiner Brust und weinte, deinetwegenund meinetwegen, und weil ich mich ein bißchen in einen anderen verliebt hatte, und weil mir die Mauerspechte allmählich die Nerven zerpickten, und weil ich spürte, wie entsetzlich müde ich war. »Komm zu Haary«, sagtest du, und ich weinte mich an deiner Schulter in den Schlaf.
    Als ich wieder wach wurde, schliefst du weiter, tief und fest. Es war später Abend; ich nahm meine Tasche, legte das Stück Mauer, das ich dir mitgebracht hatte, auf den Tisch und schloß deine Tür hinter mir.
    Am elften November 1989 war mir Urs Maiwald begegnet, jener Schweizer, von dem ich dir in den wenigen Stunden, die wir noch miteinander verbringen durften, nichts erzählt hatte. Während des vergangenen Jahres und auch im letzten halben Jahr, als ich schon wußte, daß ich HIV-negativ war, hatte ich keinen Menschen, erst recht keinen Mann, näher an mich herangelassen. Doch zu Urs faßte ich Vertrauen; er war nicht so

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