Böse Schafe: Roman (German Edition)
vierzehnten April 1990, zwei Tage nach deinem sechsunddreißigsten Geburtstag, um 21 Uhr 48.
Am zwölften April hatte ich, gepiesackt von meinem schlechten Gewissen, im DIK angerufen und dir gratulieren wollen. Zufällig oder nicht hatte Wolfgang den Hörer abgenommen. Nein, sagte er, ich könne dich jetzt nicht sprechen. Du wärst zu schwach, um aufzustehen. Deine Leber sei in einem kritischen Zustand, du hättest wieder eine Lungenentzündung und Fieber, so hohes, daß dir sicher egal wäre, welcher Tag heute sei. Sie hätten erwogen, dich in die Klink einzuweisen, doch du hättest dich geweigert und euch dies auch schriftlich bestätigt; »keine lebensverlängernden Maßnahmen«. – »Komm her«, sagte Wolfgang, »es kann jetzt sehr schnell gehen.«
Wie lange noch, fragte ich.
»Ich wage keine Prognose, aber bald«, lautete seine Antwort.
Ich flog am fünfzehnten April nach Berlin und ließ mich von einem Taxi in die Bernburger Straße bringen. Dich hatte man schon »weggebracht«. Ich weinte, wollte wissen, wo Wolfgang sei und warum mich gestern niemand angerufen hätte. »Wolfgang?« sagte eine Pflegerin, die ich nicht kannte, mit kaum verhohlener Empörung: »Der hatte ein freies Wochenende, endlich mal.« Er sei auch noch nicht »informiert«, weil er erst morgen wiederkäme. Aber sowieso müsse ich mit Wolfgang sprechen, denn er habe »das Letzte mit Herrn Krüger abgemacht«. Sie jedenfalls sei neu, und sie habe gestern keinen Dienst gehabt, dich also nicht »begleitet«.
Am nächsten Tag übergab mir Wolfgang dein handschriftliches Testament, das mich zur »Universalerbin« bestimmte, und zwei volle Umzugskartons. »Schau nach, was du sofort haben willst. Das andere kann vorläufig hierbleiben. Ich hebe es für dich auf«, sagte er.
Als ich ihn bei einer Zigarette fragte, wer denn nun an deinem Bett gesessen hätte und mir schildern könnte, wie du gestorben bist, gab er zur Antwort: »Robert, auch einNeuer, ein Student, doch der kommt wohl nicht wieder. Zu mir sagte er heute morgen nach seiner Nachtwache, Harry sei unter Schmerzen, aber ohne Zaudern in den Styx gesprungen, ja, er habe sich dem Tod regelrecht in die Arme geworfen.«
Ich steckte dein Testament ein und schenkte Wolfgang oder dem DIK das wenige, das hier weiterhin gebraucht werden würde: deine gelben Vorhänge, den Plattenspieler, den Fernseher, die Bettwäsche. Er hatte gefragt; von selbst wäre mir das sicher nicht eingefallen.
Das, was ich 1990 nicht mitgenommen hatte, holte ich erst ein Jahr später ab, nachdem mich DIK – Chef Sören Arnold per Einschreiben dazu aufgefordert und mir angedroht hatte, die Sachen ansonsten zu vernichten. – In einem der beiden Umzugskartons lag ganz zuunterst auch dein Heft, das ich jedoch erst las, als ich endlich mal alles ausgepackt hatte.
Jahrelang wollte ich mit deinen Hinterlassenschaften nichts zu tun haben. Ich konnte mich nicht überwinden, die verblichenen Bildchen, die Dokumente mit deinen Paßfotos, Julis Kette, die Porzellanpferde, die Stofftiere, die Doors – Platten anzuschauen, deine Hemden, Hosen, Pullover, Bademäntel, Schlafanzüge … zu berühren und zu riechen.
Doch eines Tages kurz vor der Jahrtausendwende, ich war längst von Urs geschieden und schon seit 1992 wieder allein in meiner Moabiter Wohnung, wuchtete ich die Kartons vom Hängeboden, streifte meinen Bademantel ab, schlüpfte in deinen mottenzerfressenen roten Kaschmirpullover, setzte mich auf ein Kissen und fing an zu wüh len. Zuerst betrachtete ich die Fotos, die von dir als Kind, die von dir und den Klingsbrüdern, die von Friede in deinem Schoß, die von uns beiden vor dem Moabiter Kar stadt – Warenhaus. Ich studierte jede Seite deines Reisepasses, deines Personalausweises, deines Facharbeiterbriefes, untersuchte – aufs neue erstaunt – deinen Führerschein, der selbst einem Expolizisten völlig unverdächtig gewesen war, und das Kunstlederetui, in dem deine Postbankkarte, zwei Zettelchen mit Telefonnummern, ein paar Briefmarken und eine aus irgendeinem Karateprospekt oder einem Kalender herausgerissene Weisheit steckten; »Es gibt drei Wege, um klug zu werden: durch Nachdenken, das ist der Edelste, durch Nachahmung, das ist der Einfachste, durch Erfahrung, das ist der Bitterste.« (Konfuzius)
Und schließlich zog ich aus einem kleinen, unter einer Lasche zwischen zwei Fächern verborgenen Schlitz, den ich erst gar nicht bemerkt hatte, zu meiner nicht geringen Überraschung noch einen
Weitere Kostenlose Bücher