Böser Bruder, toter Bruder
Patchworkdecke vor dem Wohnzimmerkamin aneinander. Ich hatte Jamie nicht mehr gesehen, seit wir von der Schule nach Hause gekommen waren, aber ich nahm an, dass er oben bei Opa war. Jamie saß oft einfach nur schweigend an Opas Bett; selbst wenn Opa nicht bei klarem Verstand war, schien er Jamies Nähe zu mögen.
Mum seufzte und legte ihr Kinn auf meinen Kopf. »Das Leben ist nicht gerecht, Schätzchen. Aber wir werden Opa nie vergessen. Er wird in unseren Köpfen und Herzen weiterleben.«
Ich blieb stumm. Mir reichte das nicht. Der Gedanke daran, Opa nie mehr wiederzusehen, war beängstigend und unerträglich. Tränen rannen mir über das Gesicht und tropften von meiner Nasenspitze. Wir weinten gemeinsam, bis unsere Augen brannten. Als Mum schließlich einschlief, weil sie von den vielen Nachtwachen an Opas Bett erschöpft war, kroch ich behutsam unter der Decke hervor und tappte lautlos die Treppe hinauf.
In Opas Zimmer war es warm und stickig. Der Geruch der Krankheit hing wie Dunst in der Luft. Das Licht war gedämpft, aber Jamie war da. Er saß wie immer ruhig neben dem Bett. Gemeinsam blickten wir auf Opas stille, eingefallene Gestalt, die unter der dicken Bettdecke kaum auszumachen war.
»Er schläft«, flüsterte Jamie. »Wo ist Mum?«
»Sie schläft auch«, gab ich zurück. »Sie ist völlig erledigt.«
»Hat sie ihre Tabletten genommen?«
»Ja, Jamie, hat sie.«
Jamie war Mum gegenüber furchtbar misstrauisch, und das ärgerte mich. Mum hielt sich großartig. Selbst als Opa krank war, nahm sie ihre Medizin und war stark, obwohl sie mit ihrer Trauer zu kämpfen hatte. Sie hatte uns sogar versprochen, nie wieder zuzulassen, dass die Krankheit die Kontrolle über sie gewann. Warum konnte Jamie nicht akzeptieren, dass mit Mum alles in Ordnung war, und sie einfach in Ruhe lassen?
Da schlug Opa plötzlich die Augen auf. Er blickte Jamie und mich an, doch sein stumpfer Blick verriet kein Erkennen.
»Ich bin hier, Opa«, sagte ich leise. »Mia. Du weißt doch, wer ich bin, oder? Soll ich Mum holen?«
Opa erwiderte nichts. Ich hätte nicht einmal sagen können, ob er mich hörte. Seine blutunterlaufenen Augen waren glasig, und obwohl er uns anstarrte, schien er nicht sicher zu sein, wen er vor sich hatte. Es war seltsa m – so als sähe er uns zum ersten Mal klar und deutlich.
»Alles ist gut, Opa«, sagte ich, als er sich keuchend abmühte, seinen schwachen Körper in eine sitzende Position zu bringen. Jamie und ich versuchten gemeinsam, ihn sanft wieder auf den Berg von Kissen zu betten, aber Opa wehrte verärgert ab.
»Was ist denn, Opa?«, fragte Jamie.
Ein Gurgeln entstieg Opas Kehle, als er etwas sagen wollte, und beim Anblick seines Gesichts bekam ich eine Gänsehaut. Seine Augen schienen aus den Höhlen zu treten und sein Mund war schlaff. Ein Speichelfaden tropfte herab.
»Opa, alles ist gut«, wiederholte ich hastig, doch als ich erkannte, dass er große Angst hatte, rann mir ein eiskalter Schauer über den Rücken. »Hab keine Angst. Ich bin’s, Mia, und das ist Jamie. Du erinnerst dich doch an Jamie? E r …«
Opa rang um Luft. Er riss seinen Blick von Jamie los und fixierte mich, während er mit dem letzten bisschen Kraft, das ihm geblieben war, meine Hand umklammerte.
»Jamie«, flüsterte er so leise, dass ich ihn fast nicht hören konnte. »Mia. Hüte dic h …«
Und dann starb er.
Noch immer kann ich seinen Gesichtsausdruck vor mir sehen.
Hüte dich.
Bis heute weiß ich nicht, was er damit meinte.
Wollte er Jamie und mir etwas über Mum sagen?
Oder wollte er mich vor Jamie warnen?
Hatte Jamie ihm während der langen, langen Stunden an seinem Krankenbett etwas gebeichtet? Wusste Opa etwas Schlimmes, was ich nicht wusste?
Ich habe keine Ahnung. Aber ein halbes Jahr nach Opas Tod hatte sich unser Leben vollkommen verändert. Vor Kummer brach Mum ihr Versprechen, setzte die Medikamente ab, und die Krankheit packte sie wieder mit eisernem Griff. Außer Jamie hatte ich niemanden, dem ich mich anvertrauen konnte, aber genau zu der Zeit begann unsere Beziehung zu bröckeln: Aus einem unerfindlichen Grund wandte Jamie sich von mir ab und distanzierte sich zusehends von mir.
Und von da an folgte e r – immer schneller und schnelle r – der Abwärtsspirale der Selbstzerstörung.
Acht
Montag, 10. März, 9.22 Uhr
Schwitzend und keuchend renne ich durch die leeren Gänge, um möglichst schnell möglichst viel Abstand zwischen mich und M s Kennedy zu bringen. Ich hoffe, dass sie
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