Böser Bruder, toter Bruder
bewusstlos. Jemand muss herkommen und ihr helfen!« Ohne auf eine Antwort zu warten, drücke ich ungeschickt auf der Tastatur herum, um das Gespräch zu beenden. Aber ich bin nicht schnell genug und kann M s Powell noch laut und deutlich hören.
»Wer spricht da?«, fragt sie scharf. »Was denn für ein Unfall?« Eine Pause entsteht. In meiner Hektik, das Handy endlich abzustellen, rutscht es mir fast aus den Fingern.
»Oh Gott!«, murmele ich. »Wie geht das Ding bloß aus?«
Am anderen Ende der Leitung schnappt M s Powell nach Luft. »Mia? Bist du das? Wo bist du un d …?«
Das Telefon verstummt, als ich endlich die richtige Taste finde. Doch einen Augenblick später klingelt es wieder. Fluchend und schwitzend und am ganzen Leib zitternd, gelingt es mir schließlich, das Gerät ganz auszuschalten. Es kehrt eine herrliche Stille ein, als das Display schwarz wird. Doch jetzt wissen alle, einschließlich der Polizei, dass ich noch im Gebäude bin. Vielleicht weiß man inzwischen auch, wer der Amokläufer ist.
Ich binde meinen Pullover von der Taille los, rolle ihn zusammen und schiebe ihn wie ein Kissen vorsichtig unter M s Kennedys Kopf. Dann stecke ich das Handy zurück in ihre Tasche. Einen Moment lang überlege ich, ob ich es nicht lieber mitnehmen sollte. Meins geht seit Monaten nicht mehr, weil wir die Rechnung nicht bezahlen konnten. Ihr Handy könnte nützlich sein, wenn ich Mum oder Bree anrufen wil l – oder vielleicht sogar die Polizei.
Aber eine vage Ahnung, dass man mich über das Telefon auf dem Weg zum Nebengebäude orten könnte, hält mich davon ab.
Ich werfe einen letzten Blick auf M s Kennedy und hoffe, dass sie nicht ernsthaft verletzt ist und dass sie bald jemand holen kommt.
Während ich durch den Korridor laufe, versuche ich den Adrenalinschub wieder heraufzubeschwören, doch alles, was ich spüre, ist reine Angst.
Jetzt gibt es kein Zurück mehr.
Sieben
Jamie ist kein Monster, damit das klar ist.
Ich erzähle hier von Dingen, die er vielleicht gemacht hat, als wir noch jünger waren. Er könnte es gewesen sein, er könnte es aber auch nicht gewesen sein. Wie ich bereits gesagt habe, gibt es keine Beweise.
Womöglich war es auch nur ein Zufall, dass unserer Lehrerin in der zweiten Klasse, Mr s Merriman, die Handtasche gestohlen wurde, nachdem sie mich vor der Klasse heruntergeputzt hatte, weil ich mit Jamie geschwätzt hatte. Sie war so hart und verletzend, dass ich am Boden zerstört gewesen war.
Der Hausmeister wurde beschuldigt, ihre Tasche und noch andere Sachen gestohlen zu haben, und entlassen. Niemand mochte ihn, er war kein netter Mensch, daher schien alles perfekt zusammenzupassen und jeder war zufrieden.
Doch es blieb ein leiser Zweifel.
Und es gab vielleicht noch andere Vorfälle.
Nein, es gab sicher noch andere Vorfälle.
M r Culpepper war einer unserer Nachbarn und sehr stolz auf seinen Garten. Opa hatte uns erzählt, dass M r Culpepper mit seinen Pflanzen schon mehrere Preise bei der städtischen Gartenshow gewonnen hatte. Dabei fand ich die ungezähmte Mischung aus Wildblumen, Gräsern, Schmetterlingen und Bienen in unserem Garten viel schöner als die streng geordneten Farben nebenan.
Jamie sagte immer, M r Culpepper würde mit der Wasserpistole in seiner Küche lauern, um jedem Insekt, das es wagte, sich in seinen Garten zu verirren, sofort den Garaus zu machen.
M r Culpepper mochte keine Kinder. Er behielt unsere Bälle, die versehentlich über den Zaun flogen, und verbrannte sie mit dem Laub. Als mir mein kaugummipinker Geburtstagsluftballon mit der Aufschrift Ich bin 6 entwischt e – das Band rutschte mir aus der kleinen verschwitzten Han d – und in Nachbars Garten schwebte, brachte M r Culpepper ihn mit einer Nadel zum Platzen. Ich saß auf der Stufe zum Garten und weinte so sehr, dass Jamie mir schließlich seinen eigenen blauen Luftballon schenkte. Indes besprühte M r Culpepper seine Rosen mit einem Insektenschutzmittel. Er wirkte sehr zufrieden mit sich, während er Hunderte von Läusen vernichtete.
Einen Monat später begann in M r Culpeppers Garten auf einmal das große Pflanzensterben. Vor unseren erstaunten Augen welkte die ganze Pracht, bis nur noch braune, kahle Stämme und Stile zu sehen waren. Es war das Gesprächsthema des Viertels, und Mum und Opa waren überzeugt, dass ein Rivale M r Culpepper zu sabotieren versuchte. Jamie und ich dagegen dachten einfach nur, dass es dem Mann recht geschah.
Doch als ich sah, wie M r Culpepper
Weitere Kostenlose Bücher