Böser Bruder, toter Bruder
des L, bis ich den Knick erreiche. Erleichterung macht sich in mir breit, als ich sehe, dass die Rollos im längeren Teil des Korridors zum Schulhof hin herabgelassen sind.
Trotzdem richte ich mich erst wieder auf, als ich nach einer Ewigkeit an der zweiten Doppeltür ankomme. Zitternd ziehe ich mich am Türgriff hoch.
Hinter dieser Doppeltür liegt der Anbau.
Hinter dieser Doppeltür, im ersten Stock, befindet sich die Klasse 9 d. Kat Randall ist dort. Jamie auch? Ich weiß nicht, was mich erwartet, aber jetzt kann mich nichts mehr zur Umkehr bewegen.
Ich drücke sachte gegen die Schwingtüren, um leise ins Nebengebäude zu schlüpfen.
Die Türen gehen nicht auf.
Sie sind abgeschlossen.
Neun
Nach Opas Tod wurde mir immer mehr bewusst, dass Jamie Mum hasste.
Eigentlich wäre es richtiger zu sagen, dass Jamie die Krankheit hasste und nicht Mum selbst, aber weil die Krankheit ihre Persönlichkeit so stark beeinflusste, war es schwierig, beides voneinander zu trennen. Im Gegensatz zu mir hat Jamie Mum schon immer Vorwürfe gemacht, weil sie nicht gleich die nötigen Schritte unternommen hat, um ihren Zustand in den Griff zu bekommen. Doch als Opa tot war und sie ihre Medikamente absetzte und sich dadurch kopfüber in die Depression stürzte, war Jamie frustrierter denn je.
»Das ist doch lächerlich, Mia!«, schrie er einmal, während er im Wohnzimmer auf und ab marschierte. Seine Wut jagte mir so viel Angst ein, dass ich still dasaß und mich nicht traute, etwas zu sagen. »Wir wissen alle, dass sie anders ist, wenn sie die Medikamente nimmt, also warum tut sie es nicht einfach?«
Ich hatte Mum dieselbe Frage gestellt, als Opa krank war, als wir einander nahestanden und uns das Reden leichter fiel als jemals zuvor. Doch Mum hatte so unglücklich und beschämt dreingeschaut, dass ich besser den Mund gehalten hätte. Und das sagte ich ihr auch.
»Nein, Mia.« Mum schlang die Arme um mich, während ich mit hängendem Kopf dastand und den Blick ihrer traurigen Augen kaum ertragen konnte. »Du hast eine Erklärung verdient. Weißt du, es ist s o …«
Sie brach ab und dachte eine Weile nach, bevor sie weitersprach.
»Wenn ich in diesem euphorischen Zustand bin, fühle ich mich so großartig, dass ich es nicht beschreiben kann. Ich brauche kaum Schlaf oder Nahrung und bin trotzdem voller Energie. Es ist wie ein Rausch. Pures Glück. Dann glaube ich, dass ich alles schaffen und niemand mir etwas anhaben kann. Als würde ich fliegen.« Sie lachte nervös. »Ich weiß, das ist schwer zu verstehen, Mia. Aber dann komme ich mir besonders vor. Unbesiegbar.«
Ich erinnere mich, dass ich stumm blieb. Ich versuchte mir eine Krankheit vorzustellen, die einen so glücklich macht, aber das war unmöglich. Sollte eine Krankheit einem nicht das Gefühl gebe n – na j a –, krank zu sein?
Mum seufzte tief. »Das aufzugeben ist verdammt schwer.«
»Aber was ist mit dem anderen Zustand?«, fragte ich. Ich wollte verstehen, was mir so unbegreiflich vorkam. »Der Depression? Wenn du tagelang im Bett liegst und weinst? Das macht doch keinen Spaß?«
Mum schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Dann kommt es mir so vor, als wäre ich am Grund eines tiefen, dunklen Lochs gefangen und es gäbe keinen Weg hinaus. Das ist der Preis, Mia. Das eine geht nur mit dem anderen.«
All das erzählte ich Jamie, als sich Mums Verhalten ein paar Monate nach Opas Tod wieder einmal zum Schlechten veränderte. Doch Jamie zeigte kein Verständnis.
»Wenn Mum nur das tun will, worauf sie Lust hat, hätte sie keine Kinder kriegen sollen, oder?«, erwiderte er mit versteinerter Miene.
»Du machst es dir zu einfach«, sagte ich. »So funktioniert das Leben nicht.«
»Als ob ich das nicht wüsste«, hatte Jamie gemurmelt und mir den Rücken zugewandt.
Wann etwas anfing schiefzulaufen, ist im Nachhinein oft schwer zu sagen, aber ich glaube, dass die Beziehung zwischen Jamie und mir genau in diesem Moment zerbrach.
Wir waren immer füreinander da gewesen und ich hatte mich immer auf Jamie verlassen können, aber nun schien er plötzlich eine komplett andere Schiene zu fahren. Er zog sich total zurück, nicht nur emotional, sondern auch körperlich. Er tat so, als hätte er mit Mum, ihrer Krankheit und den Problemen, die daraus erwuchsen, nichts zu tun. Gleichzeitig verlangte er von mir , endlich was dagegen zu unternehmen.
Die Monate nach Opas Tod waren hart, und mir fiel es immer schwerer, Mum alleine zu lassen, wenn sie ihre
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