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Böser Bruder, toter Bruder

Böser Bruder, toter Bruder

Titel: Böser Bruder, toter Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Narinder Dhami
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Werkraum und schnappe mir einen kleinen und einen großen Beitel und ein Schnitzmesser. Dann wiege ich die Hämmer in meiner Hand, wie ich es damals mit der Pistole auf dem Dachboden gemacht habe. Ich suche einen, der groß genug ist, um mich damit zu verteidigen, und zugleich leicht genug, um ihn problemlos mitnehmen zu können.
    »Aber würde ich mich echt trauen, das Ding einzusetzen?«, frage ich mich laut.
    Wieder blitzt eine Erinnerung vor mir auf.
    Donnerstag, vor ein paar Wochen: Jamie und ich sind einige Minuten vor Schulbeginn in unserer Klasse. M s Powell sieht nicht ein, dass ihre Schüler in der Wartezeit vor dem Unterricht machen, worauf sie Lust habe n – tratschen, die Heat lesen, Armdrücken oder was auch immer. Daher hat sie einen Plan aufgestellt: Montag, Mittwoch und Freitag ist stille Lektüre angesagt (womit die Heat selbstverständlich nicht gemeint ist), während wir uns am Dienstag über aktuelle Nachrichten austauschen sollen.
    Am Donnerstag wird philosophiert. Wenn wir in die Klasse kommen, steht an der Tafel eine Frage, die garantiert eine hitzige Debatte auslöst. An dem besagten Donnerstag lautete sie:
    Glaubst du, dass jeder Mensch fähig ist, einen anderen zu töten, wenn er nur stark genug provoziert wird?
    »Nein«, sagte ich, als ich nach meiner Meinung gefragt wurde. »Das könnte ich einfach nicht.«
    Normalerweise bin ich zwischen dem Für und Wider so hin- und hergerissen, dass alle in der Klasse, Jamie und Bree eingeschlossen, irgendwann genervt sind. Für jedes Argument finde ich ein Gegenargument, und wie ich bereits gesagt habe, hasse ich es, Entscheidungen zu treffen.
    Diesmal war ich mir jedoch hundertprozentig sicher. Ich könnte niemals jemanden so sehr verletzen, egal was er mir angetan hat.
    »Nicht mal aus Notwehr?«, wollte Bree wissen, und ich schüttelte den Kopf.
    Die meisten Mädchen teilten meine Meinung. Allerdings gab es auch ein paar, die keine Skrupel hätten, einen Mann zu töten, der sie vergewaltigen will. Die Mehrheit der Jungs war der Ansicht, dass sie nur aus Notwehr töten würden.
    »Ich denke, das hängt davon ab, welche Einstellung man zu sich selbst hat«, sagte Jamie. Während alle anderen sich bereits die Köpfe heißgeredet hatten, klang seine Stimme ruhig und kühl. »Wer sein Leben nicht wertschätzt, es vielleicht sogar für nutzlos hält, wird auch das Leben der anderen nicht wertschätzen. Und das macht ihn oder sie gefährlich.«
    Hatte Jamie von sich selbst gesprochen?
    Seine Worte hallen mir im Kopf wider, als ich mich schließlich für einen Hammer entscheide. Ich stecke die Werkzeuge in eine dünne Plastiktüte, die ich auf dem Lehrerpult finde, und knote die Griffe seitlich an meinem Gürtel fest, damit ich die Hände frei habe.
    Vielleicht halte ich mein Leben nicht für besonders wertvoll, überlege ich, als ich den Kunsttrakt verlasse. Schließlich bringe ich mich gerade freiwillig in diese lebensgefährliche Situation.
    Und falls Jamie Recht hat, bin ich dann gefährlicher, als ich dachte?
    Ich bin jetzt sehr nah am Anbau, so nah, dass meine Angst fast greifbar ist. Ich würde gerne wissen, was in der 9 d vor sich geht. Ob noch alle leben.
    Ich laufe schneller. Vor mir sehe ich die Doppel-tür, die in den L-förmigen Glaskorridor führt, der das Haupthaus mit dem Nebengebäude verbindet. Mein Herz hämmert wie wild.
    Als ich durch die Türöffnung trete, wird mir bewusst, dass ich einen Fehler begangen habe.
    Einen dummen, dummen Fehler!
    Ich hatte angenommen, dass alle Rollos auf der Vorderseite der Schule heruntergelassen wurden. Hier sind sie es nicht. Eine Sekunde lang stehe ich wie erstarrt in dem gläsernen Korridor und bin für jeden sichtbar, der zufällig hereinschaut.
    Oh Gott!
    Ich lasse mich so schnell auf den Boden fallen, dass ich mir mit den Werkzeugen fast in die Seite steche. Dort bleibe ich reglos liegen, während die blasse Wintersonne durchs Fenster brennt und mich blendet. Von Kopf bis Fuß zitternd, blicke ich auf und erwarte, dass Gesichter auftauchen. Gleich wird das Glas bersten und die Polizei wird hereinkommen, um mich in Sicherheit zu bringen.
    Aber nichts passiert. Also hole ich tief Luft und reiße mich zusammen. Ich schiebe mir die Werkzeugtüte auf den Rücken, damit sie mich nicht stört, und robbe wie ein Soldat im Dschungel auf dem Bauch vorwärts.
    Als nach einer Weile immer noch keiner auftaucht, wage ich zu glauben, dass ich doch nicht bemerkt wurde.
    Ich robbe weiter durch das kurze Stück

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