Böser Bruder, toter Bruder
Tage lang genoss ich mein neues Ich, das den ersten Preis beim Schreibwettbewerb abgeräumt hatte und nun plante, Schriftstellerin zu werden. Innerhalb eines Tages hatte ich mich von einer absoluten Niete in eine anerkannte Siegerin verwandelt. Nicht einmal die abfälligen Kommentare einiger Schüler, die mich wegen des Aufsatzes aufzogen, machten mir etwas aus. Ich lachte darüber oder ignorierte sie einfach. Sogar Jamie fiel mein Verhaltenswandel auf.
»Verstehst du jetzt, was ich meine, Mia?«, fragte er herausfordernd, und in seinen dunklen Augen lag ein Hoffnungsschimmer. »Glaubst du mir endlich? Man kann sich zurücklehnen und das Leben an sich vorbeiziehen lassen oder man nimmt es selbst in die Hand.«
»Ja, ich weiß«, sagte ich. Ich war von Hoffnung erfüllt, und das war ein berauschendes Gefühl. Als würde ich nach Jahren in der Dunkelheit endlich wieder die warme Sonne auf meinem Gesicht spüren. »Jetzt verstehe ich dich, Jamie.«
Ich war in Hochstimmung. Zum ersten Mal war ich stolz auf mich und konnte meinem Bruder auf Augenhöhe begegnen. Ich sah eine schillernde Zukunft vor mir liegen, fast schon in Reichweite.
»Es gibt nur zwei Dinge, die dich wieder runterziehen können«, sagte Jamie warnend. »Deine eigene Angst und Mums Krankheit. Vergiss das nicht, Mia!«
Ich erwiderte nichts. Ich hatte ihm nicht einmal richtig zugehört, denn ich war dumm genug zu glauben, dass ich durch meinen Sieg alle Überreste des alten Mauerblümchens namens Mia getilgt hatte.
Ich hatte mich noch nie so selbstsicher, so zuversichtlich gefühlt.
Und was Mum anbelangte, fand ich blitzschnell eine Lösung.
Mia Jackson kann keine Entscheidungen treffen?
Ach wirklich?
Her mit den Entscheidungsfragen, ich werde sie alle, ohne zu zögern, beantworten!
Ich wollte Mum ganz allein zum Arzt schaffen und machte gleich einen Termin in der Praxis aus. Das war kein leichtes Vorhaben, aber ich war überzeugt, dass es mir diesmal gelingen konnte. Zumindest wollte ich es versuchen. Ich stellte mir vor, wie sehr mich Jamie dann bewundern würde. Und dieser Gedanke trieb mich an.
Ich glaube, die alten Griechen hatten ein treffendes Wort, mit dem sich mein damaliger Zustand beschreiben lässt: Hybris.
Es steht für Übermut, Anmaßung und ein übersteigertes Selbstbewusstsein.
Kein Wunder, dass meine Hoffnung wie eine Seifenblase platzte.
»Mia, das ist ja furchtbar!« Mum zerknüllte den Brief in ihrer Hand und sah entsetzt zu mir auf. Sie hatte Tränen in den Augen. Ich weiß ja, dass sie mich trotz allem liebt, und deshalb dachte ich auch, dass mein Plan funktionieren würde. »Es ist doch nichts Ernstes, oder, Liebling?«
Natürlich war der Brief gefälscht. Das war keine Schwierigkeit gewesen. Ich hatte einen Computer in der Schulbibliothek benutzt. Das Schulwappen oben auf der Seite ließ den Brief sehr offiziell aussehen, und ich hatte sogar die Unterschrift der Schulschwester nachgemacht.
»Ich weiß nicht, Mum«, sagte ich und stieß einen kleinen Seufzer aus. Mum sollte glauben, dass ich mir zwar Sorgen machte, dies aber vor ihr verbergen wollte. Ich bin keine Schauspielerin, aber die Zuversicht, die mein Sieg beim Schreibwettbewerb vor ein paar Tagen in mir geweckt hatte, trieb mich an. »Ich habe der Schulschwester erzählt, dass ich mich in letzter Zeit dauernd so müde fühle und mir oft schwindelig wird un d … na ja, egal, jedenfalls sagte sie, ich solle mich von unserem Hausarzt durchchecken lassen.«
Ich wartete auf eine ihrer typischen melodramatischen Reaktionen und wurde nicht enttäuscht.
»Oh Mia!« Mum zog mich in die Arme. »Hoffentlich ist es nichts Schlimmes! Ich wüsste nicht, was ich ohne dich tun sollt e – wirklich nicht!«
»Ich habe noch einen Termin für heute Nachmittag gekrieg t – jemand anders hat abgesagt«, erklärte ich. Jamie war wie immer gleich nach der Schule verschwunden und noch nicht nach Hause gekommen. Genau genommen war er ständig unterwegs, und in den vergangenen Tagen hatte ich ihn kaum zu Gesicht bekommen. Ausnahmsweise war ich froh darüber, denn so konnte er mir nicht in die Quere kommen. »Begleitest du mich, Mum? Ich will da nicht alleine hin.«
Mum hielt mich immer noch im Arm, aber ich spürte, wie sie sich versteifte und kaum merklich von mir abrückte. Sie starrte auf mich herab, und ich begegnete ihrem erschreckten Blick.
»Oh, Mia, Liebe s …« Mum schien nicht zu wissen, was sie sagen sollte. Tränen traten ihr in die Augen. »Mia, du weißt, dass
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