Böser Bruder, toter Bruder
ic h …«
»Bitte, Mum!«, unterbrach ich sie und versuchte, ehrlich zu klingen, obwohl ich das nicht war. »Ich habe dauernd diese schrecklichen Kopfschmerzen. Ich krieg davon Albträume. Mein Kopf fühlt sich an, als sei er mit Watte vollgestopft, und ich kann nicht mehr klar denken. Es wird immer schlimmer.« Ich begann zu zittern und vergrub das Gesicht in den Händen. »Mum, ich wollte es dir ja eigentlich gar nicht sagen, aber ich habe so furchtbare Angst.«
Durch die Finger beobachtete ich meine Mutter. Sie sah inzwischen selbst blass und krank aus. Ich fand es schrecklich, dass ich ihr das antun musste, aber es war doch nur zu ihrem eigenen Besten. Ich hatte alle Trümpfe ausgespielt. Aber würde es reichen?
»Du musst ja nicht mit in die Praxis kommen, Mum«, sagte ich schnell. »Wenn du nicht willst, kannst du draußen auf der Straße warten. Ich will bloß nicht allein sein, fall s …«
Mum zog mich wieder an sich. Sie bebte am ganzen Körper, und ich wusste, dass sie große Angst hatt e – um mich und um sich selbst.
»Natürlich komme ich mit, Liebes«, sagte sie mit unsicherer Stimme. »Und ich warte natürlich nicht auf der Straße, also wirklich, Mia! Ich gehe mit dir in die Praxis.«
»Danke, Mum.«
Ich erwiderte ihre Umarmung, und Mum begann lautlos zu weinen. Ihre Tränen tropften auf mein Haar.
Sie hatte genauso reagiert, wie ich es erhofft hatte, und ich musste mir große Mühe geben, nicht allzu erleichtert zu wirken. Ich war sicher, dass die neue, selbstbewusste Mia das durchstehen würde.
Auf dem Weg zum Arzt malte ich mir aus, was Jamie wohl sagen würde, wenn er herausfand, dass ich Mum ohne fremde Hilfe in die Praxis gelockt hatte.
Dann hätte er keinen Grund mehr, seine gefährlichen Pläne in die Tat umzusetzen.
Besser noch: Wir würden alle wieder glücklich sein.
Dr . Zeelanders Zeit als Vertretung war Gott sei Dank um und ein gewisser Dr . Richardson hatte die Praxis unseres alten Hausarztes übernommen.
Ich hatte den Termin heimlich in Mums Namen gemacht. Das war riskant, denn es bestand die Gefahr, dass Mum gleich bei der Anmeldung herausfinden würde, wer der eigentliche Patient war, noch bevor der Doktor sie zu Gesicht bekam. Ohne Zweifel würde sie es spätestens dann erfahren, wenn er sie hereinrief. Doch ich verließ mich darauf, dass sie einen ihrer legendären Wutanfälle hinlegen würde. Dann müsste sich der Arzt zwangsläufig um sie kümmern.
Und als wir den sterilen weißen Wartebereich betraten, war das Glück ausnahmsweise einmal auf meiner Seite.
»Ich sag nur mal eben an der Anmeldung Bescheid, dass ich einen Termin habe und jetzt hier bin«, murmelte ich.
Mum nickte, und zu meiner Erleichterung ging sie sofort zu einem Platz am Fenster. Sie setzte sich mit dem Rücken zu dem anderen Patienten, der laut schniefte und hustete, und blickte auf den Verkehr hinaus. Ihre Körperhaltung drückte Unbehagen aus, als würde sie die Praxis am liebsten gleich wieder verlassen.
Mit kaum zu ertragender Ungeduld wartete ich an der Empfangstheke, bis die Sprechstundenhilfe ihr Telefongespräch beendete, und sagte dann so leise wie möglich: »Mr s Annabel Jackson, sechzehn Uhr fünfundvierzig.«
Die Dame am Empfang nickte. »Setzen Sie sich bitte noch einen Moment hin.«
Ich ließ mich neben Mum nieder. Sie sagte nichts, griff aber mit feuchten, kalten Fingern nach meiner Hand. Ich sah kleine Schweißtröpfchen auf ihrer Stirn und fand es verwirrend, wie sehr sie von ihrer Angst vor Ärzten und Praxen beherrscht wurde.
»Mr s Jackson?« Die Sprechstundenhilfe hatte den Telefonhörer in der Hand und hielt die Sprechmuschel zu. Neben ihr klingelte ein zweites Telefon. Sie wirkte gehetzt. »Dr . Richardson ist noch in einer Besprechung. Wäre es Ihnen möglich, bis fünf Uhr auf Ihren Termin zu warten?«
Plötzlich schien alles wie in Zeitlupe abzulaufen. Ich wandte mich zu Mum um. Sie sah erst zu mir, dann zu der Frau hinter der Theke.
»Auf meinen Termin?«, wiederholte sie äußerst freundlich.
»Ja, es tut mir wirklich leid«, erwiderte die Frau. »Aber Dr . Richardson kann Sie leider nicht vor fünf empfangen.«
Mum suchte meinen Blick.
Ich versuchte, nicht mit der Wimper zu zucken, die Nerven zu bewahren, aber gegen die jahrelange Konditionierung kam ich nicht an. Meine neu erworbene Zuversicht schwand wie das Wasser in einer Badewanne, wenn man den Stöpsel gezogen hat, und ich schlug die Augen nieder.
Meine allerletzte Hoffnung, dass Mum eine Szene
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