Böser Bruder, toter Bruder
Der Müll würde hier stehen bleiben, bis ich ihn raustrug, denn außer mir rührte keiner einen Finger im Haushalt. Ich fand meine Uhr auf dem Boden des Eimers, und dort lag auch der Schwangerschaftstest.
Ich lehnte mich zurück, starrte fassungslos auf das weiße Stäbchen und wusste sofort, dass Jamie nie etwas davon erfahren durfte.
»Oh mein Gott! Ist es das, wonach es aussieht?« Jamie stand hinter mir im Türrahmen. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich hatte ihn nicht kommen hören. Jamies ganzer Körper, sogar seine Stimme, war angespannt. Er wirkte noch wütender als damals in Dr . Zeelanders Praxis.
»Jamie, er ist negativ.« Ich rappelte mich hastig auf und hielt ihm den Stab hin, damit er sich selbst davon überzeugen konnte. »Sie ist nicht schwanger.«
»Diesmal vielleicht nicht.« Jamie schlug mir das Stäbchen aus der Hand, sodass es scheppernd zu Boden fiel. »Und nächstes Mal? Das kann ich nicht zulassen, Mia!«
»Vielleicht hätte es auch sein Gutes gehabt«, entgegnete ich schwach. »Wenn sie schwanger wäre, würde sie endlich zum Arzt gehen.«
Jamie sah mich mit tiefster Verachtung an, dann wandte er sich um und verließ wortlos das Bad.
Den Schreibwettbewerb hatte ich längst vergessen. Es war bereits drei oder vier Monate her, seit ich meinen Aufsatz in einen Umschlag gesteckt und ihn M s Kennedy gegeben hatte, damit sie ihn einreichen konnte. Und als sie an diesem Tag aus dem Lehrerzimmer trat und mir mit einem Lächeln sagte: »Ich habe heute eine Überraschung für dich«, dachte ich keine Sekunde an den Wettbewerb, sondern fragte mich, ob sie sich mit ihrem Freund verlobt hatte. Er sah aus wie ein Model und war immer todschick gekleidet, wenn er sie in seinem schwarzen Porsche gelegentlich von der Schule abholte.
Ich Trottel kam noch nicht einmal darauf, als sich alle Schüler in der Aula versammeln mussten und M r Whitman verkündete, er habe soeben die Ergebnisse des Schreibwettbewerbs erfahren.
»Einige unserer Schülerinnen und Schüler haben dank M s Kennedys Einsatz an dem Wettbewerb teilgenommen«, fuhr er mit einem strahlenden Lächeln fort. »Und daher freue ich mich sehr, euch heute mitteilen zu können, dass der erste Preis an Mia Jackson aus der 9 a geht.«
M r Whitman wandte sich mit seinem Hundert-Watt-Lächeln, das er sich gewöhnlich für Regierungsbeamte aufsparte, in meine Richtung. Und trotzdem dachte ich felsenfest, er müsste eine andere Mia Jackson meinen. Ich wäre am liebsten im Boden versunken, als sich die halbe Schule zu mir umdrehte und mich anstarrte. Die andere Hälfte hatte wahrscheinlich keine Ahnung, wer ich war. Ehrlich gesagt war ich sehr überrascht, dass M r Whitman mich in der Menge erkannt hatte.
»Mia! Das ist ja großartig«, flüsterte Bree neben mir und beugte sich zu mir, um mich fest an sich zu drücken, während M s Kennedy anfing zu klatschen und die anderen einfielen.
Sofort wandte ich mich zu Jamie um, der in meiner Nähe saß. Er nickte mir lächelnd zu, sagte aber nichts. In seinen Augen lag ein Ausdruck, den ich nicht deuten konnte.
Einen Moment lang vergaß ich alle meine Probleme, Mums Krankheit, unsere Geldsorgen und die vielen Stunden, in denen ich mich voller Angst gefragt hatte, was Jamie als Nächstes vorhatte.
In diesem Moment genoss ich meinen Erfolg. Irgendwo gab es jemanden, der der Ansicht war, dass mein Aufsatz einen Preis verdiente. Den ersten Preis! Ich war noch nie in irgendwas die Beste gewesen. Bis zu diesem Augenblick hatte ich nicht einmal das Gefühl gehabt, ein richtiger Mensch zu sein.
Erst als Bree mich in die Seite stupste, begriff ich, dass M r Whitman mich aufgefordert hatte, nach vorne zu kommen, um meinen Preis in Empfang zu nehmen. Ich taumelte Richtung Bühne, die mir plötzlich kilometerweit weg vorkam, und schüttelte die Hand des Schulleiters, wobei ich mir wünschte, dass meine Finger nicht so verschwitzt gewesen wären.
Beinahe hätte ich M r Whitman die Büchergutscheine aus der Hand gerissen, um dann so schnell wie möglich zu meinem Platz zu fliehen.
Ich war hin- und hergerissen zwischen meiner Enttäuschung, dass ich kein Geld gewonnen hatte, um ein paar von Mums Rechnungen zu zahlen, und diebischer Freude darüber, dass ich mir jetzt Bücher im Wert von hundert Pfund! kaufen konnte. Opa hatte mir ab und zu neue Bücher mitgebracht, aber das meiste, was ich las, kam aus der Bücherei und kehrte auch wieder dorthin zurück. Der Gedanke daran, in eine Buchhandlung zu gehen und
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