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Böser Bruder, toter Bruder

Böser Bruder, toter Bruder

Titel: Böser Bruder, toter Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Narinder Dhami
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machen würde, erfüllte sich nicht. Sie erhob sich einfach nur.
    »Leider kann ich nicht warten«, sagte sie ruhig. Und dabei lächelte sie sogar.
    »Möchten Sie vielleicht einen neuen Termi n …?«, begann die Sprechstundenhilfe, doch Mum schoss wie eine Rakete aus der Praxis, noch bevor die Frau ihren Satz beenden konnte.
    Ich stürzte hinter Mum her. Sie rannte bereits die Straße hinunter.
    »Mum! Mum! «
    Auf Höhe des Supermarktes konnte ich sie einholen, aber nur, weil sich ein Absatz ihrer halsbrecherisch hohen und teuren Pumps gelöst hatte.
    Mum fuhr zu mir herum. »Wie kannst du es wagen, Mia?«, fauchte sie mich an, sehr zur Verwunderung der Leute, die an der Bushaltestelle vor der Ladenpassage warteten. »Wie kannst du es wagen, einen Arzttermin für mich zu machen? Was für eine Anmaßung!«
    Sie spuckte die Worte voller Wut aus, während sie sich hinkend von mir entfernte. »Ich bin kein Kind, Mia! Misch dich gefälligst nicht in mein Leben ein!«
    »Mum, können wir das nicht zu Hause besprechen?«, flehte ich sie an und versuchte, ihren Arm zu nehmen. Ihr blanker Zorn machte mir Angst, ich kannte ihn schon von Jamie. »Ich wollte dich doch nich t …«
    »Und ob du wolltest!«, brüllte Mum. »Sei wenigstens jetzt ehrlich! Du hast mich angelogen und mir vorgemacht, du wärst vielleicht ernsthaft krank, Herrgott noch mal!« Sie zog sich den Schuh mit dem kaputten Absatz vom Fuß und schleuderte ihn nach mir, und alle Leute an der Bushaltestelle duckten sich instinktiv. »Geh mir aus den Augen!«
    Sie humpelte davon und ich hastete ihr nach. Ich war verzweifelt, denn ich wusste, dass ich gerade wieder in dieses kalte, dunkle Loch abrutschte, dabei hatte ich vor ein paar Tagen noch geglaubt, dass ich dem Elend endgültig entkommen war.
    Wie hatte ich nur so dumm sein können?
    »Mum, du brauchst Hilfe«, brachte ich schluchzend hervor.
    »Lass mich in Frieden!«, schrie sie zurück. Sie schubste mich zur Seite, schüttelte sich den zweiten Schuh vom Fuß und rannte barfuß über die Straße.
    Ich hatte versagt. Was kein Wunder ist, denn ich bin eine Versagerin. Ich hatte diese Tatsache nur kurzzeitig vergessen, weil ich von meinem Sieg beim Schreibwettbewerb völlig benebelt gewesen war.
    Das ist mein Schicksal, so bin ich eben, und es gibt nichts, womit ich das ändern könnte.
    Geschlagen und entmutigt schleppte ich mich nach Hause. Mum schrie und tobte im Wohnzimmer und warf Gegenstände an die Wand. Jamie war auch da. Wir standen zusammen in der Tür und sahen aus sicherer Entfernung zu.
    »Das ist meine Schuld«, flüsterte ich. »Ich hätte es fast geschafft, sie zum Arzt zu bringen.«
    »Du hast es immerhin versucht«, murmelte Jamie. Er sah mich nicht an. Sein Blick war auf Mum fixiert.
    »Hör auf zu flüstern!«, kreischte Mum und fuhr zu uns herum. »Reden, reden, rede n – alle reden hinter meinem Rücken. Ihr macht mich wahnsinnig! Ich sag es jetzt zum letzten Mal: Niemand hat das Recht, sich in mein Leben einzumischen! Ich gehe nicht zum Arzt!«
    Als sie auf uns zukam, wippten ihre Locken bedrohlich auf und ab, und aus ihren Augen schossen Blitze. Sie sah schön und schrecklich zugleich au s – wie eine antike Göttin mit Schlangenhaaren.
    »Ich werde nicht zum Arzt gehen, weder heute noch sonst wann. Niemals! Ist das klar?«
    »Ja, Mum«, sagte ich leise.
    Jamie schwieg. Er wandte sich mir zu. In seinen Augen lagen Resignation und zugleich wilde Entschlossenheit, und das schnürte mir die Kehle zu. Ich sah zu, wie er die Wohnzimmertür leise zuzog.
    Und ich erkannte, dass die Zeit abgelaufen war.
    Dies war das Ende, das wussten wir beide.
    Und so standen wir im Flur, Jamie ruhig und beherrscht, ich am ganzen Leib zitternd.
    »Sag’s mir, Jamie!«, flehte ich. Meine Stimme klang hysterisch, aber das war mir diesmal egal. »Sag mir, was du vorhast!«
    »Wir müssen Mum zeigen, was sie zu verlieren hat, wenn sie nicht das tut, was sie tun muss«, antwortete Jamie leise. »Nämlich freiwillig zum Arzt gehen und sich helfen lassen.«
    »Verlieren?«, krächzte ich. »Was meinst du damit?«
    Jamie ließ mich stehen und ging zielstrebig auf die Haustür zu.
    »Wir müssen Mum an ihre Grenzen treiben«, sagte er mit fester Stimme. »Wie sie es so oft mit uns getan hat. Ihr klarmachen, dass es so nicht weitergeht, dass sie nicht allein auf der Welt ist. Wir werden sie wachrütteln, damit sie uns endlich wahrnimmt.«
    »Wie denn?«, brach es aus mir heraus. »Ich verstehe nicht, was du

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