Böser Bruder, toter Bruder
ich muss lautlos schlucken, als ich mit dem Hammer aushole.
Jetzt ist sie in der zweiten Kabine, schließt die Tür und verriegelt sie. Ich wage es nicht, erleichtert aufzuatmen, aber ich nutze das Klacken des Riegels, um ungehört auf die Klobrille zu steigen, damit meine Füße nicht unter der Trennwand zu sehen sind.
Und dann kauere ich da wie ein Jäger, der seiner Beute auflauert. Aber bin ich wirklich der Jäger oder bin ich die Beute?
Neben mir ist es still. Wer auch immer da drin ist, kann viel besser lautlos pinkeln als ich. Doch plötzlich höre ich, wie etwas mit einem leisen Plumpsgeräusch zu Boden fällt. Vor Schreck kippe ich fast vom Klo.
Ich schaffe es gerade noch, mich festzuhalten. Dann begreife ich mit einem Anflug von Panik, dass der Person neben mir etwas runtergefallen ist. Und schon sehe ich, wie es unter der Trennwand durchrollt und eine Klopapierspur nach sich zieht. Die Klorolle bleibt genau vor meinem Toilettensitz liegen.
Schweiß tritt mir auf die Stirn, als ich den Spalt unter der Trennwand fixiere. Eine Hand erscheint, greift nach dem Klopapier und versucht, die Rolle zurückzuziehen. Ich muss mir fest auf die Unterlippe beißen, um nicht laut aufzuschreien.
Lass die verdammte Rolle einfach liegen, Herrgott noch mal!
Die Hand zieht weiter an dem Papier und erreicht damit nur, dass es sich noch weiter abrollt. Es ist die Hand eines Mädchens, das ist alles, was ich erkennen kann. Gehört es zur 9 d? Wer ist das Mädchen? Ich würde es so gerne fragen, aber das wäre zu riskant.
Wenn ich Pech habe, finde ich es sowieso gleich heraus. Vielleicht meint diese Idiotin ja, mitten in einem Amoklauf in die Nachbarkabine gehen zu müssen, um sich ihre Klorolle zurückzuholen.
Die zweite Person, die offensichtlich draußen gewartet hat, kommt nun herein. Ich höre Schritte. Sofort lässt das Mädchen das Papier los. Ich höre, wie es aus der Kabine stürzt, sich mehrfach flüsternd entschuldigt, dann das Murmeln von zwei Stimmen, die sich entfernen.
Hastig klettere ich von der Brille und luge durch den Spalt der Kabinentür, aber ich kann niemanden sehen.
Die Schritte auf dem Gang werden leiser. Sie verschwinden Richtung 9 d.
Das ist auch mein Ziel.
Ich schlüpfe aus der Kabine und stelle mich an die Tür, die zum Flur führt. Einen Augenblick lang versuche ich, die Lage einzuschätzen. Hier im Anbau sind alle Jalousien unten, sodass ich vor den Scharfschützen draußen sicher bin. Zumindest im Moment noch.
Dennoch verstehe ich, warum die beiden geflüstert haben. Vielleicht sitzt bereits ein Schütze auf dem Flachdach, zielt auf eins der Fenster um mich herum und wartet auf ein verdächtiges Geräusch.
Lautlos wie ein Mäuschen, leichtfüßig wie eine Katze und wachsam wie ein Raubvogel schleiche ich durch den Gang zur Klasse 9 d.
Dreizehn
In der vergangenen Woche hatte die Spannung bei uns zu Hause immer mehr zugenommen. Sie hatte sich derart gesteigert, dass ich fast am Rande des Nervenzusammenbruchs stand und dröhnende Kopfschmerzen bekam, wenn ich nur die Haustür aufmachte. Meine letzte Hoffnung, dass Leo Jackson uns helfen würde, hatte sich zerschlagen. Jamie war konstant schlecht gelaunt und Mum war immer noch auf ihrem Höhenflug.
Es lag Gefahr in der Luft und ich wusste, dass sie von Jamie ausging.
Inzwischen hatte ich es aufgegeben, auf Mum einzureden, doch endlich zum Arzt zu gehen. Eigentlich hatte ich alles aufgegeben. Es gab ja auch nichts mehr, was ich tun konnte. Ich wurde das bedrückende Gefühl nicht los, dass mir die Zeit davonlief und Jamie schon heimlich seine Pläne in die Wege leitete. Ich hatte zwar keine Ahnung, was er vorhatte, aber so wie ich Jamie kannte, hatte ich allen Grund, mich zu fürchten. Mir blieb nichts anderes übrig, als hilflos abzuwarten.
Es war eine Woche voller Katastrophen, eine Woche, in der die Emotionen überkochten und ich schließlich begriff, dass alles zu spät war, dass alles außer Kontrolle geriet und Jamie nicht mehr aufzuhalten war.
Es begann am Montag, als ich mich beeilte, um nicht zu spät zur Schule zu kommen. Da ich nachts oft wach lag, fiel es mir immer schwerer, morgens früh aufzustehen. Gähnend versuchte ich, mir gleichzeitig die Zähne zu putzen und meine Armbanduhr umzubinden. Sie fiel mir aus der Hand und landete im überquellenden Mülleimer unter dem Waschbecken.
Leise fluchend wühlte ich mich durch die gebrauchten Wattepads, Kosmetiktücher und sündhaft teuren, halb leeren Schminkdöschen von Mum.
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