Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
sprechen erst einmal unter sechs Augen mit den Herren«, entgegnete Bodenstein bestimmt. »Sie können so lange im Aufenthaltsraum warten.«
Oberstaatsanwalt Frey war es nicht gewohnt, dass man ihm eine Bitte abschlug. Sein Unmut über Bodensteins Antwort war nicht zu übersehen. Er runzelte die Stirn und öffnete den Mund zu einer Erwiderung, besann sich dann aber anders und zuckte die Achseln.
»Auch gut«, sagte er. »Dann gehe ich erst mal einen Kaffee trinken. Wir sehen uns später.«
*
Emma und Florian saßen im leeren Wartebereich vor der Chirurgischen Ambulanz des Bad Sodener Krankenhauses, hielten sich an den Händen und warteten. Louisa war auf Florians Schoß eingeschlafen. Seit über einer Stunde war Michaela bereits im OP . Die Kugel war unter ihrer Brust schräg in ihren Körper eingedrungen, hatte Darm und Leber durchschlagen und war im Beckenknochen steckengeblieben. Josef war in die Uniklinik nach Frankfurt geflogen worden, und Emma war froh darüber, denn allein der Gedanke, mit diesem widerwärtigen Schwein, das ihre unschuldige kleine Tochter missbraucht hatte, unter ein und demselben Dach zu sein, wäre für sie unerträglich gewesen. Sie warf Florian einen Seitenblick zu. Wie viel schlimmer musste das hier alles erst für ihn sein?
Schon immer hatte er ein schwieriges Verhältnis zu seinem Vater gehabt, hatte sich zurückgesetzt und ungeliebt gefühlt. Nicht zuletzt deshalb hatte er einen Beruf ergriffen, der ihn weit von zu Hause wegführte. Nun begreifen zu müssen, dass der eigene Vater ein Kinderschänder, ein Pädophiler war, der sich an seiner Tochter vergriffen hatte, musste entsetzlich sein. Stockend hatte Florian ihr von Michaela erzählt, davon, wie sehr er ihr die Liebe des Vaters geneidet hatte und ihre enge Freundschaft mit Nicky, den er als Kind geliebt und gehasst hatte. Nicky war mit acht Jahren in die Familie Finkbeiner gekommen, nachdem mehrere Pflegefamilien kapituliert und ihn zurück ins Waisenhaus gebracht hatten. Er war schon als Kind ein begnadeter Manipulator gewesen, hochintelligent, ehrgeizig und narzisstisch veranlagt. Florian hatte sich gefreut, einen gleichaltrigen Spielkameraden zu bekommen, aber Nicky hatte Michaela vorgezogen und sie völlig mit Beschlag belegt.
Michaela war schon immer versponnen, verlogen und aggressiv gewesen, aber Florian hatte seine Zwillingsschwester, die nur zehn Minuten jünger war als er, abgöttisch geliebt. Umso schmerzlicher für ihn, dass er mit ihr seine einzige Verbündete innerhalb der Familie an Nicky verloren hatte. Die Eltern hatten Nicky und Michaela alles verziehen, wofür er getadelt und bestraft worden war, sie durften sich alles erlauben. Mit zehn hatten die beiden geraucht, mit elf war Michaela das erste Mal von zu Hause weggelaufen, mit dreizehn rauchte sie Joints, mit vierzehn spritzte sie Heroin. Und dann war sie verschwunden, erst im Jugendgefängnis, dann in der geschlossenen Psychiatrie. Nicky hingegen hatte die Kurve gekriegt, war ein glänzender Schüler geworden und hatte das beste Abitur der Schule gemacht. Über Michaela hatte er nie mehr gesprochen, stattdessen dicke Freundschaft mit Corinna geschlossen, die Florians Lieblingsschwester nach Michaela gewesen war.
Es waren alles andere als glückliche Erinnerungen, die er an seine Zwillingsschwester hatte, und jetzt, wo sie die Hintergründe kannte, konnte Emma nachvollziehen, weshalb er sie nie erwähnt hatte. Draußen auf dem Gang wurden Stimmen laut. Der Name ›Michaela Prinzler‹ fiel, Florian und Emma horchten auf. Ein Mann betrat das Wartezimmer. Er war so groß, dass er den Türrahmen fast vollständig ausfüllte, seine Arme waren komplett tätowiert, er sah furchterregend aus.
»Bist du Michaelas Bruder?«, fragte er Florian mit einer seltsam heiseren Stimme.
»Ja, der bin ich«, erwiderte Florian. »Und wer sind Sie?«
»Ich bin ihr Mann. Bernd Prinzler.«
Emma starrte den tätowierten Riesen sprachlos an.
Prinzler nahm auf einem der Plastikstühle gegenüber Platz und rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. Dann stützte er die Ellbogen auf die Knie und musterte Florian eindringlich.
»Was ist passiert?«, wollte er wissen.
Florian räusperte sich und erzählte es dem Fremden.
»Ich dachte, meine Schwester ist seit vielen Jahren tot«, schloss er seinen Bericht. »Das haben mir meine Eltern erzählt.«
»Genau das sollten sie ja auch glauben«, erwiderte Prinzler. »Wir haben Michaelas Beerdigung damals inszeniert, damit sie nicht
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