Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
lange durchgehalten hast.«
»Ach, das Klassentreffen.« Das hatte Pia völlig vergessen. Die lachenden und schwatzenden Frauen auf der Terrasse der Villa Borgnis unter dem samtschwarzen Sternenhimmel erschienen ihr wie der harmlose Heile-Welt-Vorfilm zu einem Horrorschocker, der Realität hieß. Und in dieser Realität war ein Teenager gestorben.
Sie kickte die Slingpumps, aus denen der Ausflug ins Unterholz einen Fall für die Mülltonne gemacht hatte, von den Füßen.
»Ja, das war ganz nett. Aber leider musste ich noch arbeiten.«
»Arbeiten?« Christoph wandte sich um und hob die Augenbrauen. Er wusste, was nächtliche Arbeit in Pias Job zu bedeuten hatte. Selten war es harmlos. »Schlimm?«
»Ja.« Pia stützte die Ellbogen auf den Tisch und rieb sich das Gesicht. »Richtig schlimm. Ein totes Mädchen, zwei jugendliche Komasäufer.«
Christoph ersparte sich und ihr eine Floskel wie ›Oh Gott, das tut mir leid‹.
»Magst du etwas trinken?«, fragte er stattdessen.
»Ja, ein schönes kaltes Bier wäre jetzt vielleicht genau das Richtige, obwohl ich heute Abend wieder die Bestätigung dafür bekommen habe, dass Alkohol keine Probleme löst, sondern welche schafft.«
Sie wollte aufstehen, aber Christoph schüttelte den Kopf.
»Bleib sitzen. Ich hol’s dir.«
Er legte die Fleischgabel weg, deckte den Bräter ab und stellte die Gasflamme des Herdes kleiner. Dann nahm er zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank und öffnete sie.
»Glas?«
»Nein. Muss nicht sein.«
Christoph reichte Pia die Flasche und setzte sich neben sie an den Tisch.
»Danke.« Sie nahm einen tiefen Schluck. »Ich fürchte, du musst Lilly morgen alleine abholen. Da ja außer mir niemand da ist, werde ich zur Obduktion müssen. Tut mir leid.«
Morgen würde Christophs siebenjährige Enkeltochter Lilly aus Australien eintreffen und vier Wochen lang auf dem Birkenhof bleiben. Als Pia vor ein paar Wochen davon erfahren hatte, war sie alles andere als begeistert gewesen. Christoph und sie hatten beide Fulltime-Jobs, und man konnte ein kleines Kind schließlich nicht allein auf dem Hof lassen. Geärgert hatte sie sich vor allen Dingen über den Egoismus von Lillys Mutter Anna, Christophs zweitältester Tochter. Ihr Lebensgefährte und Vater der Kleinen war Meeresbiologe und hatte im Frühjahr die Leitung eines Forschungsprojekts in der Antarktis übernommen. Anna hatte ihn unbedingt begleiten wollen, aber das war mit einem schulpflichtigen Kind unmöglich. Christoph hatte ihr die Bitte, Lilly für diese Zeit zu sich zu nehmen, mit der Begründung abgeschlagen, sie sei Mutter und habe Verantwortung für ihr Kind, also müsse sie auf solche Dinge eben verzichten. Anna hatte verzweifelt gebettelt, bis sich Christoph und Pia schließlich auf den Kompromiss eingelassen hatten, die Kleine in den zweiwöchigen australischen Winterferien bei sich aufzunehmen. Pia, die Anna als Einzige von Christophs drei Töchtern nicht besonders mochte, hatte sich nicht gewundert, als aus den zwei Wochen schließlich doch vier geworden waren. Irgendetwas hatte die raffinierte Anna mit Lillys Schule gedreht und eine Beurlaubung für ihre Tochter erhalten. Typisch. Damit hatte sie wieder einmal erfolgreich ihren Willen durchgesetzt.
»Das ist doch kein Problem.« Christoph streckte die Hand aus und streichelte Pias Wange. »Was ist passiert?«
»Das ist alles noch etwas rätselhaft.« Sie nahm einen weiteren Schluck. »Ein Sechzehnjähriger, der nach einer Sauforgie im Koma liegt, und ein junges Mädchen, das wir aus dem Main gefischt haben. Sie muss schon länger im Fluss gelegen haben, ihre Leiche wurde von einer Schiffsschraube zerfetzt.«
»Klingt entsetzlich.«
»Ist es auch. Wir haben keine Ahnung, wer das Mädchen ist. Es liegt keine passende Vermisstenanzeige vor.«
Eine Weile saßen sie am Küchentisch, tranken das Bier aus und schwiegen. Das war eine der vielen Eigenschaften, die Pia an Christoph schätzte. Sie konnte mit ihm nicht nur reden, sondern auch schweigen, ohne dass dieses Schweigen je unangenehm wurde. Er spürte genau, ob sie über irgendetwas sprechen wollte oder einfach nur seine stumme Gesellschaft brauchte.
»Gleich zwei Uhr.« Pia stand auf. »Ich glaub, ich springe schnell unter die Dusche und dann ins Bett.«
»Ich bin hier auch gleich fertig.« Christoph erhob sich ebenfalls. »Ich räume nur noch die Küche auf.«
Pia ergriff sein Handgelenk, er blieb stehen und sah sie an.
»Danke«, sagte sie leise.
»Wofür?«
»Dass
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