Boeses Mädchen
Zerreißen gespannten Bogen, der sich nach einem Pfeil und einem Ziel verzehrte wie nach einer Gnade, einem Schatz.
Doch bis es soweit war, blätterte ich ohne Bedauern in meinen Büchern. Meine Zeit würde noch kommen. Derweil vertröstete ich mich mit Stendhal und Radiguet, die, wie ich fand, nicht das Schlechteste waren, was diese Erde zu bieten hatte.
Seit Christa allerdings fühlte ich mich beim Lesen eher wie bei einem Koitus interruptus. Wenn sie mich dabei überraschte, maulte sie mich erst an – »Immer mit der Nase in den Büchern!« – und erzählte mir dann tausend vollkommen uninteressante Dinge, die sie dann alle viermal unverändert wiederholte. Da mich ihr Geschwätz unendlich langweilte und mir keine andere Ablenkung einfiel, zählte ich jedesmal mit und war immer wieder erstaunt über diesen konstanten Viererzyklus.
»Da sagt Marie-Rose zu mir … Und ich sag zu Marie-Rose … Unglaublich, was sie da gesagt hat, oder? … Na ja, kannst dir ja vorstellen, was ich drauf gesagt hab …« usw.
Manchmal zwang ich mich aus purer Höflichkeit zu einer Reaktion, etwa zu der Frage: »Wer ist denn Marie-Rose?«
Damit hatte ich schon verloren.
»Das hab ich dir doch schon tausendmal gesagt!« empörte sich Christa.
Wahrscheinlich hatte sie mich schon viertausendmal mit dieser Person genervt, und ich hatte sie viertausendmal vergessen müssen.
Kurz, es war besser zu schweigen, ihr beim Reden zuzuschauen und ihren Monolog nur gelegentlich mit einem »Mhm« oder einem Kopfnicken zu untermalen. Ich fragte mich, warum sie sich so benahm. Sie war doch nicht blöd, und wenn sie mich mit diesem Schwachsinn zumüllte, dann sicher nicht, weil sie das unterhaltsam fand. Ich gelangte zu dem Schluß, daß Christa krankhaft neidisch war: Sie mußte das Glück, das ich beim Lesen empfand, zerstören, weil sie es nicht haben konnte. Sie hatte sich bereits meiner Eltern und der Wohnung bemächtigt, jetzt fehlten ihr nur noch meine Freuden. Dabei war ich bereit zu teilen.
»Wenn du mich in Ruhe dieses Buch fertiglesen läßt, borge ich es dir nachher.«
So lange wollte sie nicht warten, sie nahm es mir aus der Hand, schlug es irgendwo auf, las ein Stück mittendrin oder auch das Ende (wie sehr ich solche Praktiken verachtete, ließ ich sie lieber nicht wissen) und begann es schließlich mit zweifelnd geschürzten Lippen zu lesen. Ich holte mir schweigend ein anderes Buch, doch kaum hatte es mich in Bann geschlagen, plapperte Christa schon wieder über Marie-Rose oder Jean-Michel. Es war unerträglich.
»Gefällt’s dir nicht?« fragte ich.
»Ich glaub, das hab ich schon gelesen.«
»Was heißt, du glaubst? Du weißt doch auch, ob du eine Sahneschnitte gegessen hast oder nicht.«
»Die Schnitte bist ja wohl du!« gab sie kichernd zurück, begeistert von ihrem Bonmot. Meine Fassungslosigkeit verstand sie als Eingeständnis meiner Niederlage. Sie dachte, sie hätte »es mir gegeben«. Tatsächlich war ich nur bestürzt, wie dumm sie war.
Vor meinen Eltern wiederum brüstete sie sich mit ihren Leseerlebnissen. Und die gingen ihr wie immer begeistert auf den Leim.
»Daß du neben dem Studium und deiner Arbeit als Serviererin auch noch Zeit zum Lesen findest!«
»Anders als Blanche, die außer Lesen gar nichts macht.«
»Tu uns doch den Gefallen, Christa, lock sie von ihren Büchern weg und bring ihr ein bißchen bei zu leben!«
»Ich will’s versuchen, wenn ich euch damit eine Freude machen kann«, antwortete Christa artig.
Darin war sie groß: anderen zu suggerieren, sie seien ihr zu Dank verpflichtet. Daß meine Eltern das nicht durchschauten! Als ob sie ihnen das Hirn amputiert hätte. Ich konnte das einfach nicht begreifen. Ob ihnen klar war, daß sie mich ständig verrieten? Wog ihre Zuneigung zu mir so wenig? Warum verachteten sie ihre Tochter so sehr?
Dabei hatte es nie Probleme mit mir gegeben. In sechzehn Jahren hatte sich keiner über mich beschwert, noch hatte ich ihnen je vorgehalten, mir das Leben geschenkt zu haben, das mir allerdings noch nicht bewiesen hatte, ob es die Mühe wert war.
Mir fiel das Gleichnis vom verlorenen Sohn ein: Nach den Worten Jesu freuten sich die Eltern über das heimgekehrte Kind mehr als über das daheimgebliebene. Das galt auch für Christa. Womöglich predigten Christus und Christa in eigener Sache – sie waren verlorene Kinder. Und ich die beklagenswerte brave Tochter, die nicht schlau genug war, durch Wildheit, Weglaufen, Frechheiten, Streiche auf sich
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