Boeses Mädchen
Lieblingsmusik.«
»Ach so«, sagte er und sah mich erschrocken an.
Dann ging er wieder.
So mußte ich nicht bloß diese Hörstrafe erdulden, sondern mich auch noch vor meinen Eltern als Hauptverantwortliche für den Frevel hinstellen lassen.
An der Uni tat sie nun mehr dafür, mich in ihre Clique einzuführen; es war unumgänglich geworden.
»Ich wohne jetzt bei Blanche. Sie ist sechzehn, genau wie ich.«
»Du bist erst sechzehn, Christa?« fragte einer.
»Ja, klar!«
»Sieht man dir gar nicht an!«
»Blanche schon, oder?«
»Ja«, sagte der Typ, dem das vollkommen egal war. »Wieso gehst du mit sechzehn schon an die Uni, Christa?«
»Da, wo ich herkomme, weißt du, ist das Leben ganz schön hart. Ich wollte möglichst schnell erwachsen werden, um da rauszukommen, frei zu sein, auf eigenen Beinen zu stehen, verstehst du?«
Zu den Dingen, die mir an ihr auf die Nerven gingen, gehörte ihre Manie, selbstverständliche Sätze mit einem »Verstehst du?« zu beenden, als ob ihr Gegenüber sonst die Feinheiten des Gesagten nicht mitkriegen würde.
»Verstehe«, sagte der Typ.
»Du bist verdammt klasse«, bemerkte ein großer Wuschelkopf.
»Bei Blanche ist das anders«, fuhr Christa fort. »Ihre Eltern sind Lehrer, da könnt ihr euch ja vorstellen, warum sie so fleißig ist. Und weil sie vor mir nie eine Freundin hatte, hat sie sich so gelangweilt, daß sie Klassenbeste wurde.«
Die Jungs aus ihrer Clique grinsten verächtlich.
Ich zog es vor, mir die Kränkung nicht anmerken zu lassen. Was wußte denn Christa von meinem Leben? Mit welchem Recht warf sie mich ihren Freunden zum Fraß vor? Und was hatte sie davon?
Daß Christa einen Großteil ihrer Zeit damit verbrachte, sich selbst in Szene zu setzen, hatte ich schon begriffen. Wahrscheinlich brauchte sie zur größeren Wirksamkeit den Kontrast, also mich.
Ich war für sie ausgesprochen bequem: Sie hatte Kost und Logis mit gewaschener Wäsche und mußte dafür nicht mehr tun, als mich in der Öffentlichkeit lächerlich zu machen, was ihr ohnehin entgegenkam.
Ihr Selbstbildnis einer tapferen, gewitzten Göre, die ihrem Alter weit voraus war, erstrahlte vor dem Hintergrund einer naiven, langweiligen Pute aus »privilegiertem« Elternhaus nur um so heller – wobei ich nicht wußte, mit welchem Trick sie es hinbekam, einen Lehrerhaushalt als Inbegriff sagenhaften materiellen Wohlstands darzustellen.
Nach dieser reizenden Szene vor ihrer Clique erklärte sie mir abends: »Jetzt gehörst du dazu; das hast du mir zu verdanken.«
Vermutlich erwartete sie, daß ich ihr die Füße küßte. Ich sagte lieber nichts.
Bevor Christa in mein Leben trat, war Lesen eine meiner größten Freuden. Ich lag mit einem Buch auf meinem Bett und ging vollkommen darin auf. Wenn es gut war, verschmolz ich mit ihm. Wenn es schlecht war, nahm ich es mit Wonne auseinander und amüsierte mich königlich über seine Schwächen.
Lesen ist keine Ersatzbefriedigung. Von außen betrachtet, war mein Leben überaus dürftig; von innen wirkte es wie eine Wohnung, deren einziges Mobiliar eine prachtvoll bestückte Bibliothek ist; wer sich nicht mit Überflüssigem belastet, Notwendiges jedoch in Hülle und Fülle besitzt, erregt Neid und Bewunderung.
Niemand kannte mein Innenleben, niemand wußte, daß ich nicht zu bedauern war, nur ich – und das genügte mir. Meine Unsichtbarkeit erlaubte mir, tagelang zu lesen, ohne daß es jemand merkte.
Außer meinen Eltern wußte kaum jemand, was ich machte. Meine naturwissenschaftlich orientierte Mutter monierte, daß ich meinen Körper vernachlässigte; mein Vater unterstützte sie mit griechischen oder lateinischen Zitaten wie mens sana in corpore sano, erzählte von Sparta und träumte wahrscheinlich von Gymnasien, wo man noch Diskuswerfen lernte. Ihm wäre wohl auch ein Alkibiades lieber gewesen als seine einsame, verträumte, lesewütige Tochter.
Stoisch ertrug ich ihre sarkastischen Bemerkungen. Ich versuchte gar nicht erst, mich zu verteidigen. Wozu ihnen erklären, daß ich unsichtbar war? Ich hätte so gern eine Gebrauchsanweisung für meine Jugend gefunden, aber dazu benötigt man den Blick der anderen. Meine Eltern sahen mich nicht, weil sie schon entschieden hatten, wie ich war: zu brav, nicht gerade lebhaft usw. Sie hielten mich für arrogant und überheblich, was die üblichen Freuden meines Alters anging. Aber ein echter Blick hat kein vorgefaßtes Bild. Offene Augen hätten einen Atompilz gesehen, einen bis zum
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