Boeses Mädchen
aufmerksam zu machen und dadurch die innigste Liebe von Vater und Mutter zu verdienen.
Sie hielt Wort, die Intrigantin, und schleppte mich auf eins der unzähligen Unifeste mit, die fast allabendlich von irgendeiner Fakultät in einem abstoßenden Raum veranstaltet wurden, wobei ich mir nie sicher war, ob diese Örtlichkeiten eigentlich für diesen Zweck gedacht waren oder um alte Autoreifen zu lagern.
Es war November, ich fror in meinen Jeans. Der Lärm war ohrenbetäubend, aus den Verstärkern peitschte eine Strafe nach der andern. Man konnte sich aussuchen, ob man lieber im Zigarettenqualm erstickte oder sich an der offenen Tür eine Lungenentzündung holte. Das ekelhafte Licht machte die Leute noch häßlicher.
»Blöd hier«, sagte Christa.
»Ganz deiner Meinung. Gehen wir?«
»Nein.«
»Aber du hast doch gesagt, hier ist es blöd.«
»Ich hab deinen Eltern versprochen, mit dir auszugehen.«
Ich wollte gerade protestieren, da hatte sie Freunde entdeckt. Wie gewöhnlich begrüßten sie sie mit primitiven Gefühlsausbrüchen. Dann schickten sie sich an, zu trinken und zu tanzen.
Ich fühlte mich wie auf der Schlachtbank, aber da meine Füße mittlerweile zu Eisklumpen erstarrt waren, tanzte ich schließlich auch. Christa hatte schon vergessen, daß ich existierte. Und das war gut so.
Viele waren betrunken. Mir hätte das auch gutgetan, aber ich war zu allein, um zu trinken. Also zwang ich mich, auf der Stelle zu hampeln. Quälende Stunden vergingen, ein absurder Kampf um nichts.
Die Musik hörte plötzlich zu peitschen auf und triefte nun wie ein Wischmop: Slow war angesagt, Jungen griffen sich Mädchen. Ein ganz normaler Typ nahm mich an der Hand und in den Arm. Ich fragte ihn nach seinem Namen.
»Renaud. Und du?«
»Blanche.«
Daraufhin meinte er anscheinend, mich gut genug zu kennen, denn im nächsten Moment fühlte ich seinen Mund auf meinem. Ich fand solche Sitten eigenartig, aber da ich noch nie geküßt worden war, beschloß ich, sie zu erforschen.
Es war bizarr. Eine Zunge schlängelte sich wie das Monster von Loch Ness über meinen Gaumen. Arme strichen über meinen Rücken. Ich fühlte mich merkwürdig besichtigt.
Der Tourismus dauerte eine Weile. Es begann mir zu gefallen.
Eine Hand packte mich an der Schulter und riß mich aus der Umarmung. Christa.
»Es ist spät, laß uns gehen!«
Renaud nickte mir zum Abschied zu, ich ihm auch.
Beim Hinausgehen sah ich da und dort Pärchen auf dem Betonboden liegen, die einander in unzweideutiger Weise liebkosten. Hätte Christa mich nicht weggeholt, wäre mir das vielleicht auch passiert.
Kein Zweifel, etwas war geschehen. Ich war wie berauscht. Ein sechzehnjähriges Mädchen hatte den ersten Kuß seines Lebens bekommen, und diese ebenso schwärmerische wie lächerliche Figur war ich. Doch das war eine so geniale Dummheit wert.
Ich sagte kein Wort. Christa sah mich von der Seite an. Sie hatte alles mitbekommen und fand meinen inneren Aufruhr vermutlich grotesk. Damit mochte sie recht haben, Hauptsache, sie hielt den Mund. Jeder Mensch hat ein Recht auf sein bescheidenes kleines Glück, nun endlich war es auch mir beschieden, doch solche Freuden sind empfindlich, ein Wort genügt, um sie zu zerstören.
»Auf diesen Studentenfeten geht’s zu wie bei der Heilsarmee!« sagte Christa. »Jedes Mauerblümchen kriegt einen ab.« Sie platzte fast vor Lachen.
Ich erstarrte. Sie blickte mir in die Augen, und ich sah, wie sie meine Erniedrigung genoß. Ihre Heiterkeit kannte keine Grenzen.
Plötzlich schoß es mir durch den Kopf: Sie hieß gar nicht Christa. Ihr wahrer Name war Antichrista.
Während Antichrista in dem Bett schlief, das einmal meines gewesen war, versuchte ich, ein wenig Ordnung in das Tohuwabohu zu bringen, das in meinem Inneren tobte.
Nicht nur, daß sie mir das bißchen geklaut hat, was ich besaß, empörte sich eine innere Stimme, sie muß mir einfach alles versauen! Sie kennt meine wunden Punkte ganz genau und setzt dieses Wissen gnadenlos ein. Sie genießt es, anderen wehzutun, ich bin ihr auserwähltes Opfer, ständig muß sie mich quälen, obwohl ich ihr immer nur Gutes tat. Diese Geschichte wird ein schlechtes Ende nehmen. Höre, Antichrista: Du bist das Böse! Ich werde dich zerschmettern wie einen Wurm!
Hör mit diesem Schwachsinn auf! ließ eine andere Stimme sich vernehmen. Was bist du doch für eine Mimose! Sie hat dich ein bißchen auf den Arm genommen, na und? Wenn du nicht so vollkommen ahnungslos
Weitere Kostenlose Bücher