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Boeses Spiel

Titel: Boeses Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Blobel
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und versuchten, so zu tun, als interessierten sie uns nicht, weil sie auch für uns keinen Blick hatten.
    Ich kann mich nicht erinnern, dass sich einmal ein Erlenhofer in ein Mädchen aus unserem Ort verliebt hätte, dass es da irgendwelche Querverbindungen gegeben hätte. Sie machten auf mich den Eindruck einer verschworenen Gemeinschaft, wie Leute, die sich selbst genug sind. Die niemanden anderes brauchen. Wir waren Luft für die. Ich beneidete sie glühend um dieses Gefühl. Schon damals wollte ich gern eine von ihnen sein.

    In unserem Ort gab es eine Haupt- und Realschule, aber kein Gymnasium. Die Sophie-Scholl-Gesamtschule, ein Riesenbetonkomplex für tausend Schüler, war zwei Bahnstationen entfernt. Das war die Einrichtung für unseren gesamten Landkreis, eine Mittelpunktsschule.

    Jeder wusste, dass er dorthin zu gehen hatte, wenn er das Abitur machen wollte.
    Jeder wusste, dass der Erlenhof pro Jahr nur ein einziges Stipendium an einen Externen vergab. Also kostenlosen Unterricht. Denn der Erlenhof war zwar staatlich geprüft, aber man musste Schulgeld zahlen und nicht gerade wenig.
    Meine Eltern hätten sich das von ihrem Gehalt im Leben nie leisten können.
    Warum genau ausgerechnet ich das Stipendium bekam - Frau Feddersen hat es mir nicht gesagt, und ich hab mich auch nicht getraut, sie das zu fragen. Ich hab keine Ahnung, wirklich. Vielleicht steht es irgendwo in den Statuten des Erlenhofs, dass sie ab und zu auch mal ein Migrantenkind aufnehmen müssen, um ihr soziales Engagement zu zeigen. Alles ist möglich.
    Und bestimmt hat jeder Lehrer gemerkt, wie ich mich angestrengt habe. Wie ich gebüffelt habe …
    Ich war vierzehn, beherrschte das Deutsche inzwischen so gut, dass ich sogar in dieser Sprache träumte, hatte im ganzen Jahr keine einzige Schachpartie gegen meine Mutter verloren und meine Zensuren waren klasse.
    Ich fühlte mich unglaublich stark, als ich am 6. März morgens mein Fahrrad aus dem Keller holte, die Wollmütze tief in die Stirn zog, die Schlüssel in die Anoraktasche steckte, Fäustlinge überstreifte und losfuhr.
    Meine Eltern waren nicht da, um mir für den ersten Tag im Erlenhof Glück zu wünschen. Zweimal über die rechte Schulter spucken, das vertreibt böse Geister. Mir hat keiner über die Schulter gespuckt. Papa war mit seinem Laster auf dem Weg nach Minsk und Mama schon auf der Arbeit. Der Supermarkt öffnete um halb acht, und sie musste
eine Stunde vorher da sein, um die Auslagen fertig zu machen. Ich hatte getan, als schliefe ich noch, als Mama zu mir ins Zimmer kam. Sie sollte nicht merken, dass ich die ganze Nacht vor Aufregung kein Auge zugetan hatte.

    Es hatte geschneit, ganz leicht nur, aber genug, um die Straßen mit einer glatten Schicht zu überziehen. Ein eisiger Ostwind kam mir entgegen und genau in diese Richtung musste ich treten.
    Frühmorgens um diese Zeit im März ist es noch dunkel und der Dynamo verbrauchte viel von meiner Kraft. Der Bahn übergang war geschlossen, es dauerte endlos, bis der Güterzug vorbei war, ich zählte zweiundfünfzig Waggons. Aber dann öffnete die Schranke sich immer noch nicht und mir starben langsam die Fußzehen ab. Ich hätte meine gefütterten Stiefel anziehen können, die Papa mir aus Kiew mitgebracht hatte. Aber dafür hätte ich mich geschämt. Es waren keine Lederstiefel, es war eine Art Kunstleder, mit Kunstpelz gefüttert, so wie man sich »Russenstiefel« eben vorstellt. Nur gewärmt hätten sie viel besser als die dünnen braunen Lederschuhe, die ich für meinen ersten Tag ausgesucht hatte. Es waren meine besten Schuhe. Spitz und schmal, das war der neue Trend. So spitz, dass einem der große Zeh glatt abfrieren konnte. Aber: Wer schön sein will, muss eben leiden... Dafür hatte ich wenigstens eine Mütze übergestülpt, obwohl das extrem dämlich aussieht, wegen meiner dicken Haare und dazu, weil ich sie zu einem Zopf geflochten hatte. Es sah aus, als würde ich einen Rastaschopf unter der Mütze verbergen.
    Es war abgemacht, dass ich mich vor dem Lehrerzimmer einfinde, damit der Klassenlehrer Dr. Simonis mich begrü
ßen und mich mit in meine neue Klasse nehmen konnte. Ich wusste, wo das Lehrerzimmer war, das hatte man mir bei einem Antrittsbesuch ein paar Tage zuvor gezeigt, ich kannte auch den Fahrradunterstand draußen, in Gedanken hatte ich all diese Wege hundertmal gemacht in meinen schlaflosen Nächten.
    Was ich nicht bedacht hatte, war das schlechte Wetter, der Schneefall, der erneut einsetzte und nun

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