Boeses Spiel
habe immer die Überzeugung vertreten«, begann er mit ruhiger, beherrschter Stimme, »dass an dieser Schule Werte wie Anstand, Moral und Respekt vor der Würde des anderen eine wichtige Rolle spielen, ich war so naiv, anzunehmen, dass die Schüler im Erlenhof ein Gespür dafür entwickeln, wenn erlaubte Grenzen bedrohlich überschritten werden. Schade, dass ich mich so geirrt habe. Schade. Wirklich.«
Wieder absolute Stille.
Ich weiß nicht, ob ich jemals zuvor die Stille in einem Raum so körperlich gespürt habe wie in diesem Moment.
Es war wie ein Prickeln auf der Haut, ein Kribbeln, ich stand komplett unter Strom.
Herr Johnson dehnte diesen Moment noch weiter aus, es war eine unerträgliche Spannung in der Luft. Dann sagte er: »Marcia, komm bitte nach vorn. Und, ach ja...«, unterbrach er sich und sah die Schüler an. (Vor mir saß Simon, ich bemerkte, wie seine großen Ohren rot wurden, als der Blick des Lehrers ihn traf.) »Das noch schnell«, Johnson deutete zu dem Heftstapel hin auf seinem Tisch, »der Notendurchschnitt dieser Arbeit ist noch unter dem Niveau der letzten. Wenn ihr nicht aufpasst, wird eine ganze Reihe von euch den Sprung in die neunte Klasse nicht schaffen.«
Allgemeines wütendes und erregtes Gemurmel. Ganz klar, das war so etwas wie eine »Retourkutsche« für das Geschreibsel an der Tafel. Doch damit nicht genug. Der Lehrer suchte, während Marcia nach vorn kam, den Stapel durch und nahm ein Heft heraus, es war hellgelb, deshalb wusste ich sofort, dass er meines in der Hand hielt.
Marcia stand jetzt neben ihm. Herr Johnson nickte ihr zu. »Du kannst die Arbeiten jetzt verteilen.«
Er gab Marcia alle Hefte außer meinem.
Mit dem kam er auf mich zu, legte es auf meinen Platz und sagte mit Nachdruck: »Herzlichen Glückwunsch, Svetlana. Du hast die beste Arbeit der Klasse geschrieben.«
Ich weiß, dass sie mich in diesem Augenblick alle am liebsten ermordet hätten. Aber das war mir gleich. Dieses Mal genoss ich es, so hervorgehoben zu werden.
Ich hatte zu der Zeit noch eine gewisse Hoffnung, dass etwas geschehen würde. Das war ja auch der Grund, warum ich so geradeheraus erklärt hatte, was dieser »1. Platz« bedeutete.
Ich wollte, dass bekannt wurde, wie es mir ging. Ich wollte, dass alle wissen: Hey, da ist ein Mädchen in der Achten, der geht es scheiße. Die wird unfair behandelt. Die wird gemobbt, wie es übler nicht geht... Ich dachte, vielleicht setzen sie sich jetzt im Lehrerzimmer zusammen und beratschlagen, wie sie mir helfen können.
Dass sie die Leute, die verantwortlich waren für diesen »Contest«, finden und zur Rede stellen und dass die sich bei mir entschuldigen. Ich wäre damals bereit gewesen, ihnen die Hand zu geben und alles zu vergessen, das weiß ich.
Ich wäre über meinen eigenen Schatten gesprungen. Nur damit Frieden ist. Damit ich nachts keine Angst mehr haben musste vor dem nächsten Tag. Keine Angst, den Computer einzuschalten oder auf mein Handy zu gucken.
Aber meine Hoffnungen erfüllten sich nicht. -
Als Herr Johnson die Klasse verlassen hatte und ein paar Schüler schon gegangen waren, kam Annika wütend auf mich zu. Sie hatte ein geradezu hässlich verzerrtes Gesicht.
»Sag mal«, fauchte sie mich an, »was hast du dir denn dabei gedacht?«
»Wobei?«, fragte ich.
»Na, dem Lehrer alles gleich zu servieren, was Sache ist? Merk dir bitte ein und für allemal, dass es die Lehrer nichts, aber auch gar nichts angeht, was hier in der Klasse läuft, ist das klar?«
»Nein.«
Felicitas trat zu Annika. »Und dass du Bescheid weißt: Mir ist es vollkommen gleichgültig, ob du die Schönste oder die Hässlichste der Schule bist. Du hast ohnehin keine Chance, meine Freundin zu werden.«
»Danke«, sagte ich. »Ich lege auch keinen Wert darauf.«
»Aber was mir und einigen anderen nicht egal ist«, fuhr Felicitas unbeirrt fort, »das wäre, wenn wir jetzt Stress mit Johnson kriegen. Wenn er jetzt noch schwierigere Tests schreibt und unsere Arbeiten noch strenger bewertet. Ich kann mir eine schlechte Mathenote nicht leisten.«
»Dafür kann ich doch nichts«, sagte ich patzig. Ich wusste, dass mein Gesicht glühte. Ich kam mir vor wie auf einem Tribunal. Wie eine Verbrecherin, deren Todesurteil gerade beschlossen wird. Es war alles so unwirklich.
Annika hockte sich auf meinen Tisch. »Weißt du«, sagte sie in einem Ton, der irgendwie vertraulich klang, »es ging uns gut, bevor du kamst. Wir hatten die Lehrer ziemlich gut im Griff, wir haben
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