Bold, Emely
habe heute Nacht meine Geister befragt, und sie sind einverstanden damit, dich zu Beathas zu begleiten. Beathas ist unsere Dorfälteste. Wie alt sie ist, weiß hier niemand so genau, sie ist einfach schon immer da. Ihr müsst wissen, dass unser Volk viele Geheimnisse hat. Wir wurden oft gejagt, gefangen genommen oder bedroht. Darum schien es unseren Vorfahren notwendig, einen geheimen Ort zu schaffen, an dem unsere Geschichte sicher gehütet wird. Beathas ist die Hüterin. Wir sollten uns sogleich auf den Weg machen.“
Uisgeliath legte sich einen wollenen Mantel um die Schultern und führte sie aus dem Dorf hinaus. Sie schritt schweigend vor ihnen her. Sie blickte weder nach links noch nach rechts, sondern schien mühelos ihren Weg zu finden. Schließlich erreichten sie die Küste im Norden der Insel, wo Uisgeliath sie bat, in ein kleines Ruderboot zu steigen. Das Boot schaukelte und sank unter dem Gewicht der beiden starken Männer beinahe vollständig ein. Obwohl Uisgeliath so zart und klein aussah, bestand sie darauf, die Ruder zu übernehmen. Mit kraftvollen Zügen setzte sie das Boot in Bewegung, bis es ein Stück von der Küste entfernt, von der Strömung erfasst wurde. Nun zog sie die Ruder ein und ließ das Boot minutenlang mit der Strömung treiben. Wie von Geisterhand geleitet, steuerte das Boot auf die felsige Küste zu. Direkt vor ihnen offenbarte sich eine Spalte im Felsen, ein schwarzes Loch, auf das sie nun zutrieben. Die von außen schmal wirkende Spalte weitete sich nach innen zu einer stattlichen Höhle. Bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, hörten sie nur das Rauschen von Wasser und den Hall der Ruderschläge. Uisgeliath entzündete eine Lampe. Das Licht wurde gespenstisch von den feuchten Höhlenwänden zurückgeworfen und zauberte tanzende Schatten an die Felsen. Immer wieder verzweigte sich die Höhle und wurde zu einem unterirdischen Labyrinth. Hier, in den Tiefen der Insel, verlor man leicht die Orientierung sowie jedes Gefühl für Zeit. Irgendwann wurde das Wasser seichter und endete etwas später in einem ovalen Becken. Hier konnten sie aus dem Boot steigen. Weder Payton noch Blair konnten sagen, wie lange sie unterwegs gewesen waren. Nun brauchten sie auch die Laterne nicht mehr, denn ein helles Licht leuchtete ihnen entgegen. Über türkisglänzende Steine hinweg stiegen sie in ein großes, tempelartiges Gewölbe. Vereinzelte Sonnenstrahlen erreichten den Boden durch winzige Löcher in der Gewölbedecke.
Uisgeliath blieb stehen.
„Hier sind wir. Ich warte am Boot auf euch. Beathas erwartet euch bereits.“
Und tatsächlich, wie auf ein Stichwort hin, kam eine alte Frau auf sie zu. Die Haut von Beathas war weiß wie Papier und beinahe durchscheinend. Doch trotz ihres hohen Alters stand sie aufrecht und mit leuchtenden Augen vor ihnen.
„Latha math.“, grüßten sie höflich.
„Guten Tag, ich habe euch schon erwartet. Bitte folgt mir.“
Beathas ging ihnen voraus. Sie durchquerten den großen Raum und duckten sich durch einen kleinen Türbogen. Eine Bibliothek hatten sie hier unten nun wirklich nicht erwartet, umso überraschter waren sie, als sie die unzähligen Reihen mit Büchern und Schriftrollen erblickten. Im Schein vieler Kerzen lag ein wahrer Schatz vor ihnen. Ein großer Tisch mit Stühlen bildete das Herz des Raumes. Hier lag bereits ein Buch aufgeschlagen bereit.
Sie setzten sich und Beathas schob Payton das Buch hinüber.
„Hier habe ich alles, was uns von Vanora noch geblieben ist. Es ist nicht gerade viel, aber ich denke das, was du suchst, kannst du hier finden. Ich wünsche dir viel Glück.“
Payton wollte die alte Frau noch so viel fragen, doch sie schüttelte den Kopf.
„Nein, ich kann dir nicht helfen. Die Wahrheit musst du selbst finden.“
Dann verschwand sie durch die niedrige Tür und die beiden Brüder blieben allein zurück. Blair wollte keine Zeit verlieren, darum machten sie sich sogleich daran, die verblichene Handschrift zu entziffern. Die ersten Seiten enthielten so etwas wie Vanoras Stammbaum. Dann folgte ein Eintrag ihres Vaters, von dem Tag, als seine Tochter gemeinsam mit den anderen Mädchen von der Insel entführt wurde. Auch diesen Eintrag überflogen sie nur kurz, denn das alles war ihnen längst bekannt.
„Irgendwo in diesen Papieren muss etwas über den Fluch stehen!“, murmelte Payton.
Mit jeder Seite, die sie für uninteressant hielten, sank ihr Mut. Schließlich kamen sie zu einer Sammlung alter Briefe. Sie
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