Bolero - Ein Nick-Sayler-Thriller (German Edition)
verführerische Unterwäsche. Ich kannte die Marke, weil ich die Sachen Rue zum Geburtstag geschenkt hatte.
»Wem gehört das?«, fragte sie und hob das Nachthemd auf.
»Interessiert es Sie wirklich?«, fragte ich zurück. »Es ist sauber.«
»Da bin ich mir sicher«, erwiderte sie und blickte sich um. »Und nein, es interessiert mich nicht. Gehört es Ihrer Frau?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ihrer Freundin?«
»Ich dachte, es interessiert Sie nicht«, sagte ich.
»Tut’s auch nicht«, meinte sie. Mit diesem Lächeln. »Wo ist die Toilette?«
Toilette. Das war ein kurzer Blick auf ihren gesellschaftlichen Hintergrund. Sie hatte keinen englischen Akzent, aber sie hatte vielleicht beim königlichen Ballett in London trainiert. Vielleicht hatte sie mit diesen arroganten Typen aus Europa herumgehangen. Vielleicht war sie in ihrem früheren Leben überheblich gewesen. Das Leben, das nur Stunden zuvor völlig auf den Kopf gestellt worden war. Wie dem auch sein mochte, sie hatte eine privilegierte Herkunft.
Meriwether zeigte ihr das Gästezimmer und Gästebad, wo sie duschen und sich umziehen konnte. Er hatte sogar die nötigen Toilettensachen herausgelegt.
Er steckte den Kopf in die Bibliothek und fragte, ob ich einen Plan habe oder ob er ihre Identität verfolgen solle.
»Noch nicht«, erwiderte ich.
»Okay«, sagte er und glitt wie eine riesige Katze davon.
Ich schenkte mir einen Whiskey ein, wie immer einen Jameson, und überlegte, wie lange sie in der Dusche bleiben würde. Vielleicht wollte sie einen Strahl kaltes Wasser über sich laufen lassen, damit sie die Erschöpfung loswurde. Es war aber eher wahrscheinlich, dass sie hoffte, das heiße Wasser würde, wenn sie nur lange genug darunterstehen würde, etwas von der Hässlichkeit abwaschen,mit der sie in Berührung gekommen war. Aus persönlicher Erfahrung wusste ich, dass dafür eine Dusche oder zwei oder zwanzig nicht ausreichten. Eine lange Zeit denkt man, dass es nie genügend Wasser gibt, um wieder sauber zu werden.
Justin Greenburg hatte gesagt, sie hätten ihr Antibiotika verabreicht, wegen der tiefen Schnitte in ihrem Rücken, und es war allgemein bekannt, dass man Antibiotika nicht zu rasch absetzen soll. Welche Antibiotika? Wie viel, wie stark, wie oft? Und der Verband müsste gewechselt werden.
Jemand musste mir hierbei helfen, also rief ich, obwohl ich ihn nicht stören wollte, Edward Sloane an.
Er praktiziert nicht mehr als Arzt, aber er hat seine Approbation in drei Spezialgebieten, ist erfahren auf einem halben Dutzend weiterer und hält sich über eine endlose Zahl von Zeitschriften und Büchern auf dem Laufenden.
Seine Lektüre hat in den letzten paar Jahren noch zugenommen, weil er zu alt für seine echte Leidenschaft geworden war. Er hat die Gipfel des Mount McKinley und des Kilimandscharo bestiegen und ist zu den Basislagern der höchsten Berge auf jedem der anderen fünf Kontinente hinauf. Seiner formellen Attitüde und den maßgeschneiderten Anzügen, die er stets trug, war das nicht anzusehen, aber der alte Mann hatte einmal für den Nervenkitzel gelebt.
Sloane war vor einigen Jahren auf die Schute gezogen, vorübergehend, weil sein perfekt in Schuss gehaltenes Stadthaus auf der Sullivan Street in SoHo durch ein mysteriöses Feuer vernichtet worden war. Die Polizei hatte eine Brandermittlung durchgeführt, weil das Haus so rasch in Flammen aufgegangen und derart gründlich abgebrannt war, dass der Verdacht aufgekommen war, Sloane sei Opfer eines Verbrechens geworden. Aber ein Beweis hatte sich nie dafür finden lassen.
Nach ein paar Wochen bat ich ihn, an Bord zu bleiben, da es auf der Schute ausreichend Platz für eine vierzigköpfige Familie gibt. Obwohl er es nie zugeben würde, glaube ich, dass er erleichtert war. Sein Partner war verstorben, seine einzigen Verwandten waren tot, und er spürte allmählich sein Alter.
Als ich die Tänzerin auf die
Dumb Luck
brachte, hielt Sloane sich in der Stadt auf. Er war mit seiner Freundin Constance Cohen ins Theater gegangen und hatte sich wegen des Unwetters entschlossen, die Nacht im Harvard-Club zu verbringen.
Ich wusste, dass er nicht glücklich darüber wäre, wenn mein Anruf ihn aus dem Schlaf riss, und er war es auch nicht, aber nachdem er gehört hatte, weshalb ich ihn brauchte, war er einverstanden, zurückzukehren. Er ist nicht mehr ganz so einsatzfreudig wie früher einmal, aber wir sind seit Langem befreundet.
Vor über zwanzig Jahren – in jener Nacht regnete es
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