Bollinger und die Barbaren
Musik
kam vom Band. Offensichtlich wollte Schwierz Agnetas Auftritt durch die Livedarbietung einen besonderen Rang verleihen. Aber
das ging schief: Ihre Stimme war zu dünn für die große Bühne, und dann sang sie auch noch falsch. Von den hohen Tönen traf
sie nur jeden zweiten.
Dennoch lächelte sie und strahlte, als wäre sie noch nie jemand anderes gewesen als die Kunstfigur Anna Leschinski. Dumm war
nur, dass das in starkem Kontrast zu ihren steifen Bewegungen stand.
Dem Text des Medleys war unschwer zu entnehmen, worum es in ›Anna Leschinski‹ ging: Anna ist eine polnische Adlige, die in
der sozialistischen Ära mit ihrer Familie nach Frankreich fliehen musste, wo sie seither in einem Restaurant als Kellnerin
arbeitet. Dort lernt sie einen Sänger aus Paris kennen und verliebt sich in ihn. Doch da kommt die Ausweisung – Polen ist
nicht mehr sozialistisch, und die Emigranten müssen nach Hause. Um bleiben zu können, meldet Anna sich zur Fremdenlegion –
deshalb die Uniformjacke. Da sie als Frau nicht in den Kampf geschickt werden kann, muss sie dort vor den Legionären tanzen.
Sie leidet und wartet sehnsüchtig darauf, dass der Sänger aus Paris endlich kommt und sie mit nach Hause nimmt. Aber den hört
sie nur aus der Musicbox ...
Nachdem Anna Leschinski unter dem höflichen Beifall der Medienleute abgegangen war, sah ich, dass sie am Bühnenrand die große,
strenge Ellinor umarmte. Die beiden Frauen küssten sich – und es war nicht der Kuss, den eine Frau einer anderen Frau normalerweise
gibt. Agneta schien an Ellinor zu kleben. Und diese wich fortan nicht mehr von ihrer Seite.
Agnetas Gesang hatte das Publikum nicht gerade angefeuert. |219| Um dennoch für etwas Begeisterung zu sorgen, drängten die jungen Mitarbeiter von Schwierz nach vorne und machten Stimmung.
Einige schrien ihren Namen.
Agneta betrat zögernd wieder die Bühne. Sie zog Ellinor hinter sich her. An Agnetas Seite, auf der riesigen Bühne, umrahmt
von den Tänzern, zeigte sich die sonst so kühle Ellinor plötzlich ebenso scheu wie Agneta.
Die beiden Frauen hielten sich aneinander fest. Agneta strahlte nur noch schwach. Ihre Rolle war ausgespielt, sie wurde wieder
die Anfängerin aus Polen, die so lange im Wald von Schauren unter der Fuchtel ihrer verkommenen Sippe gelebt hatte. Nur die
Berührung mit Ellinor schien ihr die Kraft zu verleihen, die sie benötigte, um wieder an die Rampe zu treten und sich zu verbeugen.
Die übrigen Schauspieler und Tänzer des Musicals nahmen hinter ihr Aufstellung. Sie sahen nicht gerade glücklich aus. Doch
Cyril Schwierz schien zufrieden zu sein. Er wusste, warum er die junge Polin engagiert hatte. Er hatte gespürt, dass sie es
war, die seinem Unternehmen Aufschwung verschaffen würde. Nicht das viele Geld aus Paris und Frankfurt. Nicht sein internationales
Tanzensemble. Nicht die zündende Musik von Lloyd Webber. Nein, es war dieses einfache polnische Mädel, das er aus den Fängen
der Hagenaus befreit hatte. So jedenfalls würde es im ›Stern‹ kolportiert werden. Das war die Story, nicht die Romanze der
Anna Leschinski.
Jetzt verstand ich, was die Kunst des Impresarios Cyril Schwierz ausmachte: Er sah die verborgenen Talente. Aber mit Agneta
würde er noch viel Arbeit haben.
Einer stand jedoch abseits und zog ein langes Gesicht: Bürgermeister Pierre Brück, der sich doch nichts sehnlicher gewünscht
hatte als ein großes Musical in Schauren.
Als unter den Zugabe-Rufen der Anheizer noch einmal der Titelsong lief und die Tänzer hinter Agneta ihre Beine zu schwingen
begannen – da geschah es.
Ich nahm zuerst die schnell wachsende schwarze Wolke am |220| Himmel über dem Wackesberg wahr. Dann hörte ich die Explosion. Sie war gewaltig. Wie bei einer Fliegerbombe.
Pierre Brück betrat die Bühne und ging zur Rampe. Er nahm eines der Mikrofone.
»Ich bitte euch, bleibt ruhig! Unsere Polizei ist vor Ort. Niemand betritt den Wackesberg. Es wurde dort soeben ein Anschlag
verübt.«
|221| 18. KAPITEL
E s war in den Nachmittagsnachrichten. Man sah die TV-Reporter vor den brennenden Kulissen des Wackesberges stehen, am niedergerissenen
Bauzaun gaben sie ihre Statements ab. Ihre Stimmen überschlugen sich geradezu. Es klang auf allen Kanälen gleich: Eine Sensation
war zu vermelden. Lothringen wehrt sich mit Bomben gegen das Musical ›Anna Leschinski‹ .
Cyril Schwierz verabschiedete sich noch am gleichen Tag von Schauren.
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