Bollinger und die Barbaren
wird sich keiner eine Eintrittskarte leisten können. Und wenn – ich jedenfalls werde
kein Geld für das Gehopse ausgeben. Ja, wenn sie mal ein Orchester nach Schauren holen würden, das ein anständiges Konzert
gibt. |216| Gute Volksmusik. Dafür würde ich auch gerne Eintritt zahlen. Aber doch nicht für diesen Krampf um polnische Gastarbeiter.
Davon haben wir hier wahrlich genug.«
Alain Miller schaute sich nervös um. Obwohl der Himmel bewölkt war, schwitzte er. Der Auftrieb des Musicalensembles und der
Medienleute schien ihn zu überfordern.
»Ehrlich gesagt habe ich auch kein gutes Gefühl bei der Sache«, sagte ich.
Miller wandte sich ab. Etwas schien ihn zu quälen. Er murmelte Unverständliches.
»Miller, was sagen Sie?«
»Ist doch gut. So ein Spektakel. Gut für Schauren.«
»Für Schauren oder für Pierre Brück?«, fragte ich.
Alain Miller ächzte. Louis Straßer sprang für ihn ein: »Als ob das nicht dasselbe wäre.«
»Mir wäre am liebsten, die Veranstaltung wäre schon gelaufen«, sagte ich.
Zwei Busse fuhren vor. Einer kam aus Frankfurt, der andere aus Paris. Aus beiden Bussen stiegen noch mehr Gäste, die sich
schlecht gelaunt und von der Fahrt verspannt streckten und sich etwas befremdet auf dem Marktplatz von Schauren umschauten.
Eine Cateringfirma aus Saarbrücken hatte ein fahrendes Bierfass aufgestellt, in dem zwei Männer in grünen »Karlsberg«-Schürzen
standen und Bier zapften. Der Schaum spritzte den Umstehenden auf die Anzüge, und es entstand ein kleines Gerangel unter den
Gästen.
Die Journalisten ließen sich davon nicht abschrecken. Im Nu drängten sie sich an den Zapfhähnen. Es wurde laut, die Deutschen
und die Franzosen verbrüderten sich, die Stimmung hob sich. Man sah die ersten geröteten Gesichter.
Die Schaurener jedoch blieben auf Distanz – und mit ihnen ihr Bürgermeister. Nur Auswärtige tranken von dem Freibier, das
Cyril Schwierz spendierte.
Plötzlich leuchteten Scheinwerfer auf, aus den Lautsprechern |217| ertönte hämmernde Musik – ein Medley aus dem neuen Musical, frisch aus der Feder von Andrew Lloyd Webber. Die Musik ging ins
Blut. Alle Scheinwerfer richteten sich auf die leere Bühne.
Buntes Volk stürmte von hinten zur Rampe. Schwarze Tänzer in engen Lederhosen. Hübsche, groß gewachsene Frauen in hochhackigen
Schuhen und mit Bikinioberteilen, die nur spärlich ihre Busen verdeckten. Sie tanzten und sangen. Das heißt, sie rissen beim
Tanzen ihre Münder weit auf, aber der Gesang kam aus der Anlage. Die Journalisten an den Bierständen klatschten, die Tänzerinnen
warfen Kusshände ins Publikum. Die Musik wurde leiser. Die Tänzer und Tänzerinnen bildeten eine Gasse – alles hielt den Atem
an. Agneta erschien auf der Bühne.
Sie hatte sich verändert. Aus der geschundenen Magd war ein Bühnenstar geworden, eine perfekt gestylte Musicalfigur: die schöne
Anna Leschinski, die in einer ungewissen Zeit irgendwo in einem idyllischen Frankreich lebte und liebte und ansonsten Dinge
tat, die unwichtig waren. Wichtig war nur ihre Erscheinung.
Agneta trug eine operettenhafte Uniformjacke und schwarze Strumpfhosen. Sie machte nur wenige Tanzschritte. Ich sah, dass
sie sich noch nicht so gekonnt und mühelos bewegte wie das Ballett, aber das brauchte sie auch nicht. Sie hatte dafür etwas
anderes. Sie hatte Ausstrahlung. Sie war gleichzeitig schön und leidenschaftlich und unnahbar. Aus meiner zarten Agneta, dem
Lamm, war eine Löwin geworden, ein Schwan, ein edles Tier aus dem Märchen.
Einmal lächelte sie mir kurz zu. Mein Herz drohte auszusetzen. Agneta war mir plötzlich wieder sehr nah – und gleichzeitig
weit weg von Schauren und ihrem schwierigen Leben bei den Hagenaus. Kein Mensch hätte jetzt, wo sie auf der Musicalbühne stand,
geglaubt, dass sie einmal die Sklavin von Barbaren gewesen war. Vielleicht war sie das aber nie gewesen. Vielleicht hatte
sie sich bei den Hagenaus in einem Verpuppungszustand befunden. In Erwartung ihres Durchbruchs.
Sie schien ängstlich zu sein. Es war ja auch ihre Premiere auf |218| der Bühne. Um ehrlich zu sein: Sie bewegte sich hölzern, Agneta war befangen. Ihr fehlte die Routine. Sie wusste nicht, wohin
mit den Händen: Erst verbarg sie sie auf dem Rücken, dann streckte sie sie so weit von sich, als flößten sie ihr Furcht ein.
Zu allem Unglück begann sie auch noch zu trällern. Warum bloß? Die anderen bewegten doch auch nur ihre Lippen, und die
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