Bombenbrut
schwitzt, als würde er zu Hause den Rasen mähen, nur hier bewegt er sich kaum, und die Luft ist stickig, die Windböen in den Straßenschluchten spenden keinen Deut Erfrischung.
Leon nimmt seinen kleinen Kamerarekorder aus dem Rucksack und dreht ein paar Sehenswürdigkeiten der Stadt: Die große Statue von Onkel Ho, das weiße Rathaus, das ›Rex‹ von unten, den Ben Thanh Markt.
Er umrundet die große Markthalle und genießt den Geruch der offenen Garküchen, des lodernden Feuers unter den großen Woks. Es riecht nach Zimt, Anis und Ingwer und er staunt, was die Vietnamesen alles essen. Jedes Tierchen und jedes Insekt scheinen sie bedenkenlos in ihre Töpfe und Frittierpfannen zu werfen. Er dreht mit seiner Kamera lebende Frösche in Netzen auf den Markttischen, zappelnde Fische in Eimern, krabbelnde Schildkröten auf den Tischen, rekelnde Schlangen und krabbelnde Skorpione in Glasgefäßen.
Er selbst isst zwischendurch eine unendlich scharfe Frühlingsrolle mit einer ihm unbekannten Füllung. Sie schmeckt nach Meeresfisch und Algen. Dann steckt er sich ein in Paksoiblättern eingewickeltes Thunfischröllchen in den Mund und genießt den frischen Fisch-und Koriander-Geschmack. Den vietnamesischen Sauerkohl mit Balut, angebrütete Enteneier, lässt er lieber stehen, als er deutlich den gelben Schnabel und die ersten dunklen Federn des jungen Kükens erkennt.
Leon ist fasziniert von den vielen bunten Bildern, er lässt sich treiben. Er hat den Grund seines Besuchs fast vergessen. Dabei wird es langsam Abend, die Markthändler beleuchten mit kleinen Lampen ihre Stände. Leon weiß, er muss langsam zurück und Herbert Stengele und Markus Kluge suchen. Er will zum Hotel, doch er spürt plötzlich eine Veränderung der Atmosphäre. Immer mehr Menschen kommen ihm entgegen, dann wird die Straße, die er hochgehen wollte, von der Polizei gesperrt und immer mehr Stände und Buden werden aufgebaut. Die Autos, Rad-und Mopedfahrer werden umgeleitet, der exotische Nachtmarkt beginnt.
Leon dreht mit seiner Kamera noch ein paar Menschen in dem dämmrigen Licht. Ihre Gesichter sind meist mit tiefen Furchen durchzogen, ihre Haut ist braungelb gegerbt. Die Männergesichter zieren dünne, zottige Barthaare, die lang und ungepflegt abstehen. Die Frauen tragen ihre Strohhüte tief ins Gesicht gezogen und weite Gewänder. Nur wenige haben sich dem Weststandard angepasst und tragen MarkenT-Shirts, andere hingegen sind offensichtlich richtig arm. Ihre Kleidung scheint den Rot-Kreuz-Säcken der europäischen Kleidersammler entnommen zu sein. Manchen Menschen fehlen einzelne Glieder, auffallend viele sind ohne Beine, sie rutschen auf selbst gebauten Holzgestellen durch die Menge und betteln. Leon erinnert sich an das Bild der kleinen Nguyen Thi Ly, sie ist auf einem preisgekrönten Presse-Foto zu sehen, ein erst neunjähriges Mädchen, völlig missgestaltet. Es leidet 35 Jahre nach dem Krieg an den Giften, die seine Eltern in den 60er-Jahren einatmeten, nachdem US-Flugzeuge die Wälder des Vietcong mit Agent Orange zur Entlaubung besprüht hatten.
Leon will das Bild des kleinen Mädchen mit dem deformierten Kopf und seinen großen schwarzen Augen in seinem Hirn wegwischen, da bleibt er plötzlich wie erstarrt stehen. Schnell drückt er das Okular seiner kleinen Kamera an sein rechtes Auge und hält mit der anderen Hand seine linke Gesichtshälfte verdeckt. Im Sucher sieht er zweifelsfrei ein ihm bekanntes Gesicht: Markus! Er lacht, scherzt und ist im Gespräch mit drei Männern.
Leon schaut sich die Herren genauer an, filmt ihre Gesichter und fragt sich, warum Markus sich hier in Ho-Chi-Minh-Stadt mit Arabern trifft. Ihre Gesichtszüge sind eindeutig: Schmale Gesichter, feine Nasen, mandelförmige Augen, hoch gewölbte Stirnen und dunkelbraune bis schwarze Hautfarbe, tiefschwarzes Haar, und schwarze, oder schon angegraute Bärte.
Die Gruppe steuert zielstrebig auf einen Stand auf dem Nachtmarkt zu, ein vietnamesischer Standbesitzer geht ihnen freundlich entgegen. Er bietet ihnen einen freien Tisch an, den er eben erst mit zwei Helfern aufgebaut hat. Der Tisch steht etwas abseits, um ihn herum herrscht wenig Betrieb. Der Vietnamese führt die Gruppe gezielt an diesen Platz.
Die vier Männer schauen sich um, stimmen sich ab, die abseitige Stelle scheint ihnen zu gefallen, sie setzen sich auf die ihnen zugewiesenen Plätze.
Leon dreht die Szene. Er ist gut getarnt, steht hinter einem weiteren Marktstand und fühlt sich unbeobachtet.
Weitere Kostenlose Bücher