Bonita Avenue (German Edition)
Sache ging ihm ganz offensichtlich an die Nieren, er warf seine sozialdemokratischen Prinzipien über Bord. Aaron war froh, dass Sigerius ihn, möglicherweise aus Scham, nicht ansah, sodass er seinen eigenen Emotionen freien Lauf lassen konnte, was oft das Beste war; von ihm hatte eine seltsame Erregung Besitz ergriffen – teils ein Entzücken aus Dankbarkeit dafür, dass er ins Vertrauen gezogen wurde, teils ein Unwohlsein wegen der unerwarteten Intimität. Es fühlte sich an, als ob sie gemeinsam durch die Cafeteria tanzten.
«Man stattete ihn mit einem Overall und einem redlichen Salär aus, sodass er sich morgens irgendwo mit einer Butterbrotdose melden konnte. Nach etlichen Problemen und noch mehr Problemen, die wir jetzt besser beiseitelassen, durfte er einen Neuanfang versuchen – was will ein Mensch denn mehr? Und das noch in der Stahlindustrie, bei Hoogovens, ein prima Betrieb, in dem schon seit einem Jahrhundert Zehntausende von Niederländern ein ehrbares Einkommen erzielen. Eine Chance, sollte man meinen. Aber bei der ersten Kleinigkeit schnappt sich der Bursche einen Hammer und schlägt seinen unmittelbaren Vorgesetzten, einen Vorarbeiter, der kurz davor war, von der Firma eine goldene Uhr überreicht zu bekommen, mit fünfzehn Schlägen flach wie eine Zehn-Cent-Münze. Ich war im Gericht, als der Staatsanwalt berichtete, was die verschiedenen Augenzeugen gesehen hatten. Was mit einem Menschen passiert, wenn man mit einem vier Kilo schweren Eisenhammer auf ihn einschlägt.»
Sigerius befeuchtete seinen Schnurrbart, indem er die Unterlippe darüberstülpte, und drückte ihn dann mit Daumen und Zeigefinger platt. Aaron wusste nicht, was er sagen sollte. Das war kein Geständnis mehr. Hier wurde ein Schicksal kundgetan. Er hatte gemeint, einiges über Sigerius zu wissen, hatte gemeint zu verstehen, was diesen Mann – zu dem er, ungeachtet seiner verzweifelten Anstrengungen, es nicht zu tun, aufsah – sein Leben lang beschäftigt hatte, über welche Stufen des Erfolgs dieses Leben verlaufen war, was es ausmachte, und jetzt wurde ihm auf einmal klar, dass er nichts wusste. (Ein Gefühl der Unwissenheit, dachte er später, an das er sich am besten gleich hätte gewöhnen müssen, es sollte ihn in Enschede weiter begleiten. Nie wusste er etwas.)
«Acht Jahre», sagte Sigerius laut – der Barkeeper war ein Stück näher gekommen und polierte die Abtropfgitter. «Die Staatsanwaltschaft forderte zehn Jahre mit anschließender Sicherungsverwahrung. Aber im Pieter Baan Centrum, das ist die psychiatrische Untersuchungsklinik, benahm er sich gut, da schon», und hier senkte er seine Stimme, «voll zurechnungsfähig. Mein Sohn ist alles andere als ein Dummerchen.»
Als handelte es sich um ein Aufmunterungsmittel, setzte er das Tonic Water an die Lippen und kippte den letzten Schluck in sich hinein. Das leere Glas stellte er leise und sehr bestimmt auf den breiten Tresen aus Kirschbaumholz.
Der Zug verlangsamte seine Fahrt, die Vorstädte Brüssels kamen in Sichtweite, die Passagiere im Gang, die Nacken gebeugt, spähten auf den grauen städtischen Wildwuchs. Tineke, die ihre Augen wieder geöffnet hatte, nahm aus ihrer roten Lederhandtasche einen Spiegel und einen Lippenstift, färbte ihren faltigen Mund mit zielsicheren Bewegungen dunkelrot, packte die Gegenstände wieder ein und starrte mit gerunzelter Stirn auf eine Stelle zwischen Aaron und dem Mann neben ihm.
Wilbert Sigerius. Er hatte ihn nie kennengelernt, von ihm ging nach all den Jahren für Aaron keine Faszination mehr aus. Doch ihm war bewusst, dass alles, was er später, im Lauf der Jahre in Enschede, über Tinekes Stiefsohn erfahren hatte, für sie mindestens ebenso leidig gewesen sein musste wie für Sigerius. Sie hatte zwei gesunde Töchter mit in die Ehe gebracht, Mädchen, denen sie gemeinsam eine mehr als hingebungsvolle, um nicht zu sagen exquisite Erziehung hatten angedeihen lassen, dank deren Joni und Janis, auf ihre je eigene Weise, zu aufgeweckten, gefestigten, mitunter langweilig rationalen Erwachsenen hatten heranreifen können. Im Gegenzug jubelte Sigerius ihr dieses Natterngezücht unter.
Der Zug schob sich in den Brüsseler Hauptbahnhof und kam ruckend zum Stillstand. Die Menge im Gang bewegte sich langsam auf die Türen zu, die noch immer geschlossen waren: das stumme Warten, das Eingeständnis der eigenen Isolation in hundert stillen Köpfen. Tineke machte noch keine Anstalten aufzustehen. Für ihn selbst war es am besten,
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