Bonita Avenue (German Edition)
Schreckliches.
Sein Vater, der zwei Jahre später einem Herzstillstand erliegen sollte, wandte sich um, das dünner werdende Haar auf dem Hinterkopf war feucht von der Pomade; er nahm aus dem Buffet hinter sich drei Schnapsgläser, stellte sie vor sich hin und füllte sie derart geschickt, dass sich der Genever oberhalb des Randes wölbte. «Ank, kommst du kurz?», sagte er. «Dann können wir auf Siem anstoßen.»
Und als er und seine Schwester beklommen am Tisch standen, reichte sein Vater ihnen ein Glas.
«Ich trinke doch keinen Alkohol, Papa», sagte er.
«Du behauptest immer mal wieder alles Mögliche.» Sein Vater nahm das Glas am silbernen Fuß und hob es in die Höhe. Als Ankie und er es ihm gleichtaten, sagte sein Vater: «Auf unseren Betrüger.»
Es stimmte. Jahrelang hatte er ihn hinters Licht geführt. Hatte sich wie ein Mitglied der Untergrundbewegung zum Judo begeben, das heißt: Alle wussten es am Ende, seine Brüder und Schwestern, seine Mitschüler, die Nachbarn von gegenüber und schließlich jeder einzelne Abonnent des Delfts Katholiek Dagblad – nur nicht sein Vater. Jahrelang trainierte er im Geheimen, bis er ganz zerfleddert war, erst einmal die Woche, schon sehr bald dreimal die Woche und zum Schluss viermal. Während all dieser Zeit unterhielt er ein feinmaschiges Netz aus Lügen, Schleichwegen und Handlangern, um das tun zu können, was er am liebsten tat.
Sein Vater sollte sich ruhig auf den Kopf stellen. Das beschloss er, als er mit ihm einen bleischweren Sekretär, der ein paar Wochen wie eine gestrandete Galeone in ihrem Wohnzimmer gestanden hatte, vom Trompetsteeg in die Kruisstraat schleppte, ins Haus von seiner älteren Schwester und ihrem Mann. «Ich nehme das Ding», hatte Loes gesagt. Es war bitterkalt, und es war eine Knochenarbeit, alle fünfzehn Meter mussten sie das Eichenmöbel, das die Firma seines Vaters aussortiert hatte, auf der sonntäglich leeren Straße absetzen.
Sein Kopf war rot vor Anstrengung, vielleicht aber auch, weil er die Strecke, die er nun mit seinem Vater zusammen zurücklegte, mit etwas anderem verband. Schon seit Wochen ging er jeden Dienstagabend auf demselben Weg hinter seinem Vater her, vorsichtig wie ein Detektiv, der einen Gauner beschattet, quer über den Beestenmarkt in die lange Molslaan hinein, unter dem Arm eine Spar-Tüte aus Papier. Ehe er links in die Kruisstraat einbog, war der Dufflecoat seines Vaters bereits ein dunkelgraues kleines Oval in der Ferne, unterwegs zur kaufmännischen Abendschule in der Raamstraat. Er hingegen klingelte an der Tür von Loes und Gerrit, woraufhin ihm seine Schwester, halb auf dem Bürgersteig, halb in der gefliesten Diele stehend, seinen gewaschenen und gestärkten Judo-Anzug in die Tüte schob. Danach rannte er, auf den Vorsprung seines Vaters nicht so recht vertrauend, zur Oude Delft, um rechtzeitig im Dōjō von Uke-Mi zu sein.
Ein halbes Jahr zuvor hatte er seinem Vater vom Judo-Sport erzählt. Damals hatte er bereits rund zehn Probestunden bei Herrn Vloet hinter sich. Weil er das unbestimmte Gefühl hatte, sein Vater könnte möglicherweise weniger begeistert sein als er, hatte er sich gut vorbereitet; es schien ihm nicht unklug zu sein, seinen Vater über die hinter seinem neuen Sport stehende Philosophie aufzuklären; Judo war viel mehr als nur Gebalge. Herr Vloet, der in Paris mit japanischen Meistern auf der Matte gestanden hatte, redete einmal eine ganze Trainingsstunde lang über die Auffassungen von Professor Kano, dem Begründer ihres Sports. Ein Porträt dieses Mannes hing in ihrem Dōjō. Das war ein großartiger Abend gewesen. Herr Vloet konnte einen gehörig zusammenstauchen, und wenn ihm ein Schulterwurf nicht so recht gefiel, brüllte er ohrenbetäubend laut «BOCKMIST!» durch den Saal, aber er konnte auch auf freundliche, ruhige Art erzählen , mindestens eine Stunde lang hatten sie um ihn herumgesessen, und am Abend jenes Tages bei Tisch hörte Siem sich mit heißem Kopf nacherzählen, was er davon behalten hatte.
Seine Brüder und seine Schwester lauschten kauend, und auch sein Vater schwieg; er stützte sich mit den ledernen Ärmelflicken seines Pullovers auf die bestickte Tischdecke und sah ihn über eine dampfende Schüssel Wirsing hinweg an. Sein kleines, zerfurchtes Gesicht machte einen erschöpften Eindruck. Vielleicht weil er immer saß, hier und im Büro, hingen seine knochigen Schultern nach vorn und wirkte sein Hals lang und kahl.
«Also eigentlich, Papa», sagte
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