Bonita Avenue (German Edition)
aufschlitzen und ausweiden. Dass du kein Mann, sondern nur eine Frau bist, bedeutet, dass Gott dich noch nicht ganz verlassen hat.»
Nach diesen Worten verschwand er in Richtung Diele, wo er, deutlich hörbar atmend, darauf wartete, dass Bobbi und ihre Mutter sich ihm anschlossen.
11
Am Samstagnachmittag nach seiner erbärmlichen Suchaktion in Aarons Haus fahren sie zu Ria und Hans, Freunden von Tineke aus ihrer Utrechter Zeit. Zwei Stunden sitzen sie in ihrem klimatisierten Audi, er am Steuer, und schweigen hauptsächlich. Auf Radio 2 diskutiert ein Abgeordneter mit einem Branchenvertreter und einem Beauftragten des Staatlichen Ordnungsamts, zuständig für die Vergabe von Genehmigungen pyrotechnischer Produkte, er schnappt etwas über eine Tröpfchentheorie auf. Tineke legt ihre fleischige Hand auf seinen Unterarm.
«Hast du das gehört?», fragt sie.
«Was gehört?»
«Das mit der Nitrocellulose. Gleich nach der Katastrophe hat man Nitrocellulose gefunden.»
«Was sie nicht alles sagen.» Er hat keine Ahnung, wovon sie spricht, er weiß nicht, was Nitrocellulose ist, in Gedanken ist er woanders. Zuhören wäre besser, am Montag spricht er mit der Oosting-Kommission, die die Katastrophe untersucht. Aber dieses Boot geht ihm nicht aus dem Kopf. Ständig fragt er sich, was zum Teufel er über seine Kinder weiß. Ein Vater, der seinen Sohn schon seit Jahren nicht mehr gesehen hat, dessen ältere Stieftochter sogar an seiner eigenen Universität studiert. Was weiß er?
Am Morgen, als Tineke zum Kardiotraining aufgebrochen war, rief er die Nummer auf der Hafenquittung an, mit seinem Mobiltelefon selbstverständlich; ein Mann ging ran, der kein Englisch verstand, es war ein Fiasko, nicht einmal den Satz «Ich rufe gleich wieder an» kriegte er mit seinem Realschul-Französisch zusammen. Er rannte nach oben ins Arbeitszimmer und suchte aus einem Französisch-Wörterbuch möglichst viele Stichwörter heraus, rief dann erneut an, doch jetzt nahm der Kerl natürlich nicht mehr ab. Nach einer Viertelstunde hatte er ihn wieder am Apparat und musste erst einmal lügen, dass er der Vater von A. Bever sei, um anschließend mit seinem Campingplatz-Französisch (der Mann, der Wissenschaftsminister werden will, spricht nur Campingplatz-Französisch) in Erfahrung zu bringen, dass die Yacht Aarons Eigentum war, « propriété de monsieur A. Bever, oui monsieur, Bever de Enschede, né le 8 janvier à Venlo – oui, c’est ça ».
Es war, als würde er selbst zu Wasser gelassen, im Nordpolarmeer. Nach dem ersten Schrecken – ein schmerzhafter Druck auf der Brust, ein Durcheinander von allem Möglichen in seinem Kopf (Drogen, Mafia, Frauenhandel, Klaas Bruinsma, Sex, Sex, Sex) – flüchtete er sich in Unglauben: Er musste den Mann falsch verstanden haben, es konnte nicht sein, dass die beiden ein Schiff besaßen, das Millionen wert war, ein Boot, das man in Florida für Unsummen pro Woche mieten konnte. Das war irrsinnig – er wurde selbst irrsinnig.
Doch jetzt glaubt er es wieder. Denn was wissen wir voneinander? Was wissen Väter überhaupt? Eine Yacht? Kann man eine Luxusyacht geheimhalten? Was weiß ein Vater?
Um eine Antwort darauf zu bekommen, muss er die Frage bloß einmal durchspielen: Was wusste sein Vater von ihm ? Ja, für so etwas ist er genau der Richtige. Auf einmal sitzt er nicht mehr in seinem Auto, sondern befindet sich in Delft, im elterlichen Haus am Trompetsteeg, wie so oft an Sonntagen ganz steif vom Muskelkater und übersät von blauen Flecken, doch ausgerechnet an dem Sonntag, an den er jetzt denkt, machten ihm die Schmerzen rein gar nichts aus, denn tags zuvor war er in der Energiehal in Rotterdam niederländischer Meister geworden. Und sein Vater? Der wusste von nichts. Der saß unten und wusste hartnäckig von nichts.
1962? 1962. Aus dem Mansardenfenster seines Zimmers starrte er, noch unter dem Eindruck seines taufrischen Siegs, auf die Gasse seiner Jugendjahre, die kaum hinter ihm lagen. Auf seinem Garrard-Koffergrammophon drehte sich zweifellos eine seiner EPs gegen die sonntägliche Trübsal, die wie eine Riesenhand aus dem engen Treppenloch ragte und das Obergeschoss abtastete. Wäre er doch nur wieder in der Kromhoutkaserne. Ankie, sein Vater und er hatten soeben in der Küche warm gegessen, und nach der Zirkusnummer mit Apfelsine und Joghurt, die ihr Vater seit der Schlacht bei Nieuwpoort aufführte – das vollständige Pellen und Zerteilen der Apfelsine, Stück für Stück, eine
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