Bonita Avenue (German Edition)
klebrige, halbstündige Prozedur –, war er nach oben gegangen, um auf den Augenblick zu warten, in dem er seinen Seesack nehmen und mit dem Rad wieder nach Utrecht fahren durfte. Es musste gegen sieben gewesen sein, es dämmerte bereits in der Gasse, als gegenüber eine Haustür aufging und einer der Karsdorp-Söhne auf Pantoffeln die schwarzen Pflasterklinker überquerte und bei ihnen ans Fenster klopfte.
«Ank!», brüllte sein Vater aus dem Wohnzimmer, er hörte, wie seine Schwester den schwarzsamtenen Vorhang beiseiteschob und sich an den Fahrrädern vorbei zur Haustür zwängte. Die Begrüßung, Stimmen, die sofort gedämpft wurden, Ankie, die die Treppe heraufkam und mit ihrem dunkelbraunen Lockenkopf um die Ecke schaute. «Komm schnell», flüsterte sie, «du bist gleich im Fernsehen.»
Möglichst leise zog er seine Knobelbecher an. Unten, im dunkler werdenden Wohnzimmer, herrschte eine auffällige Stille. Sein Vater saß in seinem Sonntagsanzug aus Wollstoff am Tisch und las; die Messinghängelampe warf ein Schlaglicht auf eines der mit marmoriertem Papier eingeschlagenen kaufmännischen Bücher der Abendschule, durch seine halbe Lesebrille schaute er auf die Seiten, als wäre der Sohn der Karsdorps, der neben dem Tisch stand und den Verschleiß des Teppichbodens studierte, Luft.
«Auf Wiedersehen, Herr Sigerius», sagte der Junge, und er und Ankie gingen hinter ihm her über die glatten Klinker ins Haus der Nachbarn, die noch ärmer zu sein schienen als sie, aber die Einzigen im Trompetsteeg waren, die einen Fernseher besaßen. «Nur zum Fernsehen», sagte der Vater des Jungen zu dieser Ausschweifung, «nicht zum Essen.» Das Wohnzimmerchen roch nach Blumenkohl und fettiger Soße und quoll über von Kindern und Erwachsenen auf hinzugestellten Stühlen, in der Ecke beim Fenster strahlte das Auge eines lackierten Fernsehmöbels Bilder eines am Nachmittag ausgetragenen Fußballspiels aus.
«Setzt euch, Kinder», sagte Frau Karsdorp, eine Mutter mit üppigem, blassem Fleisch und dichtem rotem Haar, das sich nicht zu einer Frisur bändigen ließ. Auch hier konnte man eine Stecknadel fallen hören; hinterher meinte er sich zu erinnern, dass es erst bei seinem Eintreten so leise geworden war, schlagartig um sich greifende Verlegenheit, alle Augen blieben fest auf die Sportschau gerichtet, es hatte den Anschein, als wären alle seinetwegen verlegen, weil er Meister war, oder aber wegen seiner Ausgehuniform.
Nach dem Fußball kam ein Bericht über einen Schwimmwettkampf, doch danach sahen sie tatsächlich Bilder vom Judoturnier in Rotterdam, die Stimme Jan Cottaars nannte den Namen des Titelverteidigers Joop Gouweleeuw, ebenfalls aus Delft, die Kamera zoomte den Weltmeister Anton Geesink heran, «der am nationalen Titelwettkampf nicht teilnahm», und da stand er selbst, der «neunzehnjährige Simon Sigerius», am Rand der Matte, vor seinem Finalkampf gegen Jan van Ierland. Herr Karsdorp, neben dem er zusammen mit seiner Schwester auf einem schmalen Zweisitzer hockte, war der Erste, der den Mund aufmachte: «Kommt euer Vater nicht mitgucken?», fragte er, und Siem sah, dass Ankie darauf etwas erwidern wollte, ganz bestimmt etwas Entschuldigendes. «Das glaube ich nicht, Herr Karsdorp», kam er ihr zuvor. Seine Stimme hallte tief und laut durchs Wohnzimmer. «In den Augen meines Vaters ist Judo ein Sport für Landesverräter. Er weiß nicht einmal, dass ich niederländischer Meister bin.»
So war das, und Zeit für eine Antwort blieb nicht, denn da legte er auch schon auf der Matte los, «ein großartiger Meisterschaftskampf», glaubte man Jan Cottaar, und alle im Zimmer betrachteten mit seinen eigenen beunruhigten Gedanken das schwarzweiße Männchen, das im Hier und Jetzt gerade so Seltsames gesagt hatte, jetzt aber an einem gewissen Jan van Ierland rüttelte und zerrte, «und es dauerte nicht mal drei Minuten, bis der wehrdienstleistende Soldat Sigerius seinen Gegner mit einem flinken Schenkelwurf auf die Tatami warf, woraufhin er sich zum niederländischen Meister im Schwergewicht krönen lassen durfte».
Ob sein Vater, im Lampenlicht wie ein im Bernstein gefangenen Fossil, aufschaute, als Ankie und er eine halbe Stunde später ins ansonsten stockdunkle Wohnzimmer zurückkehrten, hat er vergessen, aber eine Flasche Genever stand neben ihm. Seine Schwester schaltete die Schirmlampen an, er drückte sich an der Tür zur Diele herum, und beide warteten sie auf etwas, auf einen Ausbruch, auf etwas
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