Bonita Avenue (German Edition)
beleuchteten Außenvierteln die Orientierung verlierend, mit seiner jammernden Mutter neben sich, während er und Sebastiaan von der Rückbank aus mucksmäuschenstill auf die respekteinflößende Beule auf ihrer Schulter starrten. Am Abend zuvor waren sie von Venlo aus zu einem Campingplatz in der Bretagne aufgebrochen, und geplant war, dass er und Sebastiaan in der knatternden Konservendose schlafen sollten, stattdessen aber hatten sie sich während der gesamten Fahrt gestritten und gezankt, hatten sich beschimpft, geschlagen und bespuckt, bis er eine Handvoll Seiten aus Sebastiaans Bibliotheksbuch gerissen hatte und ihrer Mutter der Kragen geplatzt war und sie ihm, nach hinten langend, eine Ohrfeige verpassen wollte. Schulter ausgekugelt. Sie brüllte wie am Spieß. Seine Schuld.
So fuhren sie durch die Gegend, stundenlang, seine in Tränen aufgelöste Mutter bei jedem Hubbel vor Schmerz krepierend, und er hatte eine Höllenangst, dass das Kugelgelenk durch ihre schneeweiße, straff gespannte Haut hindurchstechen könnte. Schließlich hielt ihr Vater einfach irgendwo an, zog die Handbremse und rannte in kaum verhohlener Panik auf einen schwach erleuchteten Steinhaufen zu, ebendiese Mühle – um nach dem Weg zu fragen, dachten sie, aber er kam mit einem großgewachsenen Kerl wieder, der Jean-Baptiste hieß und seine Mutter mit beruhigenden Worten in sein großes, rosafarbenes Wohnhaus trug, gefolgt von seinem Vater gleich dahinter. Dort, außerhalb der Hörweite von Kinderohren, renkten die beiden Männer die Schulter wieder ein.
Am Mittag jenes Tages vor langer Zeit bauten sein Vater und sein Bruder im pollensatten Gras, auf dem er jetzt saß, die Zelte auf, und seine Mutter ging zu Jean-Baptistes Hausarzt am Dorfplatz von Linkebeek. Zwischen seinen Eltern und dem Müller und dessen Frau muss es sofort klick gemacht haben, denn sie blieben eine Woche dort. Für ihn war diese Zeit unvergesslich. Er und sein Bruder schlossen Freundschaft mit der Müllerstochter und dem -sohn, Zwillingen, die weniger als ein Jahr älter waren als er und die ihn und Sebastiaan, an Baustellen, Baumgärten, Bächen vorbei, zu einer Burgruine mitnahmen, um die herum sie sich abendelang ausgetüftelte Ritterschlachten lieferten. Das Mädchen hieß Julie, sie hatte fusselige braune Haare und zeigte ihm irgendwo im Wald, was sie unter «Kinoküssen» verstand: zwei geöffnete Fischmäuler, die einander feucht beatmeten. Im Jahr darauf und auch im darauf folgenden ließ er im April einen Versuchsballon steigen, Papa, Mama, fahren wir dieses Jahr wieder zur Mühle? Wäre es nicht eine gute Idee, wenn wir usw. Sie waren nie wieder hingefahren. Erst Jahre später erzählte Sebastiaan ihm, dass seine Mutter sich in diesen Jean-Baptiste verliebt hatte. Ihr Vater war dahintergekommen, dass sie über ein Postfach in einer Postfiliale nicht weit von ihrer Arbeitsstelle Briefe von ihm empfing.
Vielleicht war man ja auch bei Joni dahintergekommen , dachte er plötzlich. Eine Möglichkeit, die er noch gar nicht in Betracht gezogen hatte. Die abgebrochene Karriere bei McKinsey – vielleicht waren Fotos aufgetaucht? Es zirkulierten garantiert noch Aufnahmen auf Gratis-Websites. Vielleicht war sie erkannt und damit konfrontiert worden, was im puritanischen Amerika zweifellos zur fristlosen Kündigung führte. Konnte das sein? Es würde auf jeden Fall ihr Leben im Verborgenen erklären.
Er schloss die Augen. Die raue Borke der Weide schnitt in seinen Hinterkopf. Mitleid ließ seine Tränenkanäle volllaufen. Er war nicht der einzige Verlierer, das Jahr 2000 war ein Schlachtfeld gewesen. Und gerade deswegen sehnte er sich nach Joni, sie würden darüber reden, zusammen, er könnte sie trösten. Sie hatten die gleiche wilde, katastrophale Vergangenheit, mit der sie gemeinsam würden abschließen können. Joni würde bei ihm einziehen, sein absurdes, leeres, tristes Haus in ein Zuhause verwandeln. Mit Leichtigkeit könnte sie irgendwo in Brüssel einen Job finden, oder in Linkebeek. Erst in der Woche zuvor hatte er gesehen, dass die Bibliothek jemanden suchte, keine in den Beruf zurückkehrende Mutter, sondern jemanden, der dafür sorgte, dass die Bestände aktuell blieben. In Brüssel gab es ja sowieso genug Büroarbeit.
Das alles erschien ihm phantastisch. Sie kannte ihn durch und durch, wusste, wie er war, bevor er krank wurde. Sie durfte ihre Kinder mitbringen. Er würde sie mit derselben Liebe großziehen, wie ihr Stiefvater sie großgezogen hatte.
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