Bonita Avenue (German Edition)
können. (Seltsamerweise, sagte er später zu Haitink, hörte er das wirkliche Getöse innerlich, ein Klimpern in seinem Innern. In seinem Kopf sei auch etwas in Scherben zerbrochen. Er selbst sei zersplittert. «Denken Sie jetzt», sagte Haitink. «Dachte ich damals», sagte er. «Denken Sie jetzt, dass Sie es damals dachten», sagte sie.)
Im Fernsehen wurde die niederländische Nationalhymne gesungen. Sie starrten auf die Fußballspieler. «Was hat dein Vater gesagt?»
«Ich geh dann mal», sagte sie tonlos. «Ich muss allein sein. Vielleicht rufe ich dich noch an.» Sie zog ein paar Klamotten aus der Oilily-Tasche, packte den Griff ihres Rollkoffers und ging damit hinaus. Passierte das wirklich? Zehn Minuten zuvor waren sie wie Püppchen, die auf einer Hochzeitstorte stehen sollten, in die Straße eingebogen und hatten sich in den schönsten Farben eine Zukunft ausgemalt, deretwegen sie ihren Urlaub abgebrochen hatten: Wir gehen nach Kalifornien, du und ich. Er hatte daran geglaubt, und wenn nicht er, dann Joni. Am Morgen, nachdem ein Waldbrand sie beinahe ins Meer getrieben hätte, war sie wie seine persönliche Ursula Andress am Kieselstrand der Brandung entstiegen. «Weißt du was?», hatte sie gesagt, während sie, die Haare auswringend, auf ihn zugekommen war und den Schnorchel und die Flossen vor ihm hingeworfen hatte, «ich will nach Hause. Wir müssen zu Hause noch unendlich viel erledigen. Lass uns doch Frankreich gegen die Niederlande gemütlich in Enschede angucken.» Und jetzt ging sie fort aus seinem Leben?
In den ersten Tagen und Nächten hatte er vor allem Angst. Wer auf diese Weise das Haus verlässt, taucht so auch wieder auf. Jede Stunde des Tages und der zum größten Teil durchwachten Nacht rechnete er damit, dass Sigerius kommen würde, um sich Genugtuung zu verschaffen. Er lag im dunklen Wohnzimmer auf dem schweißfeuchten Leder der Couch, erstarrte bei jedem Geräusch von draußen. Um nicht überrascht zu werden, nahm er das Telefon mit zur Toilette; bevor er duschte, legte er es auf das gelbgepisste Waschbecken. Die splitterigen Planken, mit denen die Stadt das erste kaputte Fenster verrammelt hatte, holte er wieder aus dem Schuppen und nagelte sie vor das Loch in seinem Haus. (Das davor war ein Vorzeichen gewesen, mehr nicht, eine Ankündigung.)
Beim ungeschickten Hantieren in der prallen Mittagssonne ließ er die Szene, die sich zwischen Joni und ihrem Vater abgespielt haben musste, zu etwas Monströsem anwachsen, immer wieder stellte er sich den Augenblick vor, in dem Sigerius seiner Tochter eine Ohrfeige verpasst hatte, die ist für dich, du Hure, er spürte sie selbst, ein knallharter Schlag, der eigentlich ihm galt, woraufhin er Sigerius wie einen Cananefaten im Anzug mit einem rasenden Kopfstoß die Scheibe seiner Schiebetür zertrümmern sah. Die Wut, die in dieser Tat steckte, übertraf seine schlimmsten Befürchtungen und ließ die Vergeltungsvisionen ganz nichtig erscheinen, die er in Momenten der Reue so weit wie möglich verdrängt hatte.
Als er auf eine schwere Tennistasche stieß, in der sich, wie sich herausstellte, ein Bolzenschneider befand, dämmerte es ihm erst so richtig, dass der Vater seiner Freundin auf einer Mission gewesen war. Mit dem bleiernen Gewicht in der Hand wurde ihm bewusst, dass Sigerius sie nicht einfach so ins Ausland geschickt hatte, es war eine genau ausgeknobelte Aktion gewesen, und wie war Sigerius überhaupt ins Haus gekommen? Er ließ das Werkzeug mit einem Rums auf den Boden fallen, ihm war schwindelig, er musste sich setzen, seit wann ahnte Jonis Vater etwas von ihren Machenschaften? Auf dem Dachboden sah er lieber nicht nach, er ersparte sich das Durcheinander aus umgeworfenen Kästen mit Reizwäsche, Dildos, zerrupften Perücken.
Jonis Weggang hinterließ ein tiefes Loch, dessen schwammigen, algenartigen Boden er manchmal kurz berührte. Was von seiner Fähigkeit, zu normalen Zeiten zu schlafen, noch übrig war, verkümmerte ganz, sein Körper schaltete erst ab, wenn die leeren Batterien begannen durchzurosten. Nachts lag er auf einem Laken auf der Couch, tagsüber stachen Messer aus Licht durch die splitterigen Planken. Als alles bis auf den letzten Krümel, bis auf das letzte Blatt Klopapier aufgebraucht war, verließ er das Haus, um einkaufen zu gehen. Alle Geschäfte, in denen er früher seine Besorgungen erledigt hatte, waren explodiert oder abgebrannt, er unternahm mit dem Fahrrad lange Fahrten in andere Viertel, von denen er
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