Bonita Avenue (German Edition)
Und dieses eskalierende Geschrei ließ ihn ins Grübeln kommen und schlecht schlafen, immer schlechter schlafen und immer mehr ins Grübeln kommen. Und nach ein paar Wochen war es so weit, dass er nachts das Haus verließ und durch Linkebeek streunte, durch die leicht abfallenden Straßen mit den unzählbar vielen Bäumen, Hecken und Ligustersträuchern, durch den Tiefschnee aus Herbstblättern in allen denkbaren Gelb- und Rottönen. Er dachte, es seien Euro-Scheine und sprang in die vollgewehten Böschungen und Rinnsteine, lachend und weinend über so viel Reichtum – sieh doch mal, Lieke! Er erkannte Wim Duisenberg am Steuer eines Volvo Kombis und rannte eine halbe Straßenlänge hinter dem Wagen her. Zwei Tage und Nächte war er verschwunden. Halluzinierend irrte er durch die südlichen Wälder und Ländereien, voller Angst, beraubt zu werden, voller Angst, dass man ihn ermorden, foltern, verspeisen könnte. Vierundzwanzig Stunden lang versteckte er sich zitternd vor Furcht in einem mit fauligen Euros gefüllten Graben. In der dritten Nacht ging er zurück, um einige Kilo leichter, voller blauer Flecke, von oben bis unten mit Dreck und Blut beschmiert, hustend wie ein Hund. Er holte die Schubkarre aus dem Schuppen, nahm die Schaufel und füllte die Wanne mit Knete. Dann bugsierte er sie ins Wohnzimmer und schüttete seinen Reichtum auf das Eichenholzparkett. «GELD!», schrie er unten an der Treppe, «GELD!»
E-Mail ist ein schlimmeres Marterinstrument als die chinesische Wasserfolter. Verflucht, es kam nichts. Früher benutzte er gelegentlich dieses dünne Luftpostpapier, man schrieb einen Brief, klebte ihn zu und schob ihn nach einem erfrischenden Spaziergang in so einen roten Kasten auf Pfählen: Die restliche Woche über konnte man ein normales Leben führen. Er versuchte, sich zu beherrschen, schickte dann aber doch noch eine E-Mail. «Sag mir wenigstens, ob du bei Wilbert gewesen bist. Wie war es?»
Ein Klaps auf den eigenen kahlen Schädel, und er streifte sich eine Sommerjacke über und zog die Tür hinter sich zu. Er stieg von seinem Wall hinunter. Draußen war es immer noch mild, die Holundersträucher in den Gärten, der Weißdorn und die Hainbuchen belaubten sich mehr und mehr. Sein Nachbar von gegenüber kam auf einem altmodischen Rennrad von der Arbeit, ein blonder Niederländer mit allerlei Kindern, sie nickten sich zu. Mit großen Schritten ging er den sonnenbefleckten Grasmusdreef hinab, folgte der sanften Kurve vom Kasteeldreef, ging einen Kilometer geradeaus und überquerte die Eisenbahngleise. Er trat einen Kieselstein in die Böschung. Hier konnte sie doch auch skaten. Dazu brauchte man nicht unbedingt Kokospalmen.
Ein Schleichweg durch einen Waldstreifen führte ihn auf einen Pfad, der sich unter einem jungen, aber dichten Blätterdach dahinschlängelte. Moosige Luft, die nach feuchter Erde roch, er lauschte seinem Atem. Nach etwa einhundert Metern sah er in der Ferne die Lichtung mit der Roze Molen, einer baufälligen Mühle aus schmutzigem weißem Bimsstein, den man tatsächlich als rosa bezeichnen konnte. Er ging darum herum und betrachtete das verrostete oberschlächtige Wasserrad, das schon seit Jahrhunderten aus der Rinne ragte. Bis vor einigen Jahren war in dem Gebäude eine Jugendherberge untergebracht gewesen, die damit den von ihr benötigten Strom produzierte.
Er ging über die unebene Grasfläche und dachte an Haitink – sie war es, die ihn auf den Gedanken gebracht hatte hierhinzuziehen. Denn wo hätte er sonst hin sollen? Mit Enschede war es aus und vorbei, alles, was ihn mit der Stadt verbunden hatte, war ausgewandert, explodiert oder machte, das glaubte er allen Ernstes, Jagd auf seinen Skalp. «Stellen Sie sich einfach vor, Sie sind an dem Ort, wo Sie sich am allerwohlsten fühlen oder gefühlt haben» – das hatte sie ihm für den Fall beigebracht, dass es ihm einmal schlechtging, ein psychotherapeutischer Kniff, den er grummelnd angewandt hatte, woraufhin er geradewegs zu diesem Steinhaufen gelangt war.
Ungefähr an dieser Stelle, wo er jetzt stand, unter den strähnigen Ästen genau dieser Weide vielleicht, hatten seine Eltern, sein Bruder und er in den siebziger Jahren zufällig gezeltet. Am frühen Morgen waren sie nach vergeblichen Versuchen, in Brüssel ein Krankenhaus zu finden, mit ihrer himbeerroten Kastenente exakt hier gestrandet. Seinem Empfinden nach die ganze Nacht war sein Vater auf Schnellstraßen hin und her gefahren, immer wieder in schlecht
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