Bonita Avenue (German Edition)
Schwerwiegenderes hinterher. «Seit einigen Wochen», tippte er, «denke ich viel über damals nach. Es ist Wahnsinn, Joni, wenn man sich mal überlegt, was aus jedem von uns geworden ist. Deinem Vater, vor allem dem natürlich. Du dort, ich hier … Deine Mutter mit einem neuen Mann. Ich würde gern wissen, wie du das rückblickend siehst. Gern würde ich mit dir darüber reden, hier oder da bei dir! Noch kurz zu Wilbert: Ich bin einfach nur neugierig. Liebe Grüße, Aaron.»
Und nun wartete er schon seit Stunden, wartete zuerst darauf, dass bei ihr der Tag anbrach, und jetzt immer noch. Seit sieben Uhr kalifornischer Zeit – vielleicht guckte sie ja in ihre E-Mails, bevor sie ins Büro ging – aktualisierte er wie ein Schlangenbeschwörer sein Eingangs-Postfach. Weil er ihr so unbesonnen vorgeschlagen hatte, sie zu besuchen, wechselten Scham und Euphorie einander ab, ein abwechselndes Erröten und gedämpftes Jubeln, während seine Fingerspitze, seine Hand, die Sehnen zur rechten Schulter vom unaufhörlichen Mausklicken verkrampften. Es war schon fast Mittag drüben.
Was erhoffte er sich? Eine unerwartete Wendung. Er hoffte, dass Joni auf seinen Vorschlag eingehen würde, indem sie ihn einlud oder, lieber noch, demnächst in die Niederlande kam, warum auch immer, vielleicht war der Kontakt zu ihrer Mutter wiederhergestellt, vielleicht hatte er sie einander wieder nähergebracht. Und dass sie, womöglich aus Dankbarkeit, den Gegenvorschlag machen würde, nach Linkebeek zu kommen. Und hinter dieser Hoffnung steckte noch viel mehr, das spürte er an seinem Zeigefinger, der inzwischen aus demselben weißen Kunststoff war wie die Maus; insgeheim hoffte er, dass ihre Gedanken sich um ihn drehten, dass sie es schön fand, über sein Leben nachzudenken, und dass sie den Gedanken – und hier stockte er.
Er stand auf und ging ins andere Zimmer und blieb, ohne etwas zu sehen, vor dem Bücherregal stehen. Dass Joni den Gedanken, es eventuell noch mal miteinander zu versuchen, nicht nur ungewöhnlich, sondern, genau wie er, ungewöhnlich bedeutungsvoll fand. Er atmete tief ein; die idiotische, aber wunderbare Idee, ausgerechnet mit Joni ein ganz normales Leben aufzubauen, ein Leben, wie es für einen achtunddreißigjährigen Mann gedacht war, sie verursachte ein schwelendes Gefühl in seinem Magen, am liebsten wäre er aufgesprungen und nach draußen gestürmt, den Hügel hinab, und mit ausgestreckten Armen auf die Straße gerannt, um so viel Sauerstoff wie möglich aufzunehmen. Es kam ihm so … natürlich vor. Ein überwältigendes Gefühl erfasste ihn, ein … wie sollte er es nennen, Ende-gut-alles-gut-Gefühl. Wer sonst als Joni wäre in der Lage, ihn zu retten ?
Eine Schnake flog torkelnd vorüber, er grapschte das Tier aus der Luft. Auf Socken schlitterte er zurück zu seinem Schreibtisch und ließ das Gezappel in seiner hohlen Faust am Fenster frei.
Eigentlich hatte er der Liebe bereits abgeschworen. Er war in der Lage, auf sich gestellt zu leben, aber dieses «auf sich gestellt» bedeutete im Grunde solitär, allein, einsam, verlassen. Nach Joni hatte es Freundinnen gegeben, das schon, er hatte es versucht, aber wenn Verliebtheit Gebettel um eine Psychose war, erwies sich Zusammenwohnen als Garantie. Es konnte alles Mögliche schiefgehen. Einen Großteil des Jahres 2005 hatte Lieke bei ihm gewohnt, eine Flämin, ein Goldstück von einer Frau, Beamtin bei der Europäischen Kommission – jedoch sparsam, pathologisch sparsam. So sparsam, dass sie vom Bett aus «Hahn zudrehen!» schrie, wenn er sich die Zähne putzte, so sparsam, dass sie die Kassenbons aus dem Supermarkt durchsah, um zu kontrollieren, ob er auch wirklich die Konserven aus dem untersten Fach, die B-Marken, nein, die C-Marken gekauft hatte. Und wenn er die albanische Pampe aufwärmte, ging sie neben ihm in die Hocke und spähte misstrauisch unter seine Töpfe; sobald etwas kochte, drehte sie die Flammen runter. Sie konnte es nicht ertragen, dass er keinen festen Job hatte. «Ich bin verdammt noch mal ein Millionär», sagte er, wenn er ein Restaurant betrat, ohne draußen die Preise studiert zu haben. «Darum geht es nicht», flüsterte sie, «es geht darum, dass ich nicht dreißig Euro für ein winziges Stück Fleisch hinblättern will.» Am liebsten hätte sie selbst die Kellertreppe vollgepisst, um sich die Katze zu sparen.
Sie gerieten deswegen immer wieder in Streit. Heftige Auseinandersetzungen über Geld, in dem er bekanntlich badete.
Weitere Kostenlose Bücher