Bonita Avenue (German Edition)
zuwirft, schiebt seinen Stuhl nach hinten und verschwindet unter dem Tisch. Seine Schläfen pochen, er schnappt nach Luft.
Gütiger Gott. Jetzt bin ich geliefert.
Er sieht das kleine Gerät leuchten, jedenfalls die Hälfte, die anthrazitfarbene Rückseite ist abgesprungen, es liegt ein Stück weiter entfernt zwischen Koks Füßen. Der Parlamentspräsident nennt seinen Namen, er ist an der Reihe, wie ein Hündchen schaut er zum Ministerpräsidenten auf, «Entschuldigung», murmelt er und zeigt unter Koks Tisch, «da muss ich kurz mal hin». Zwischen zwei klobigen schwarzen Lederschuhen, robusten Gewerkschaftstretern, die einen Berlusconi Parlamentssitze kosten würden, packt er das Kunststoffteil und kommt wieder hoch. Er legt das schalenlose Handy auf den Tisch und eilt zum Rednerpult. Ein fähiges Double beantwortet die Fragen, die auf ihn abgefeuert werden.
Sobald er erlöst ist, verlässt er, ohne sich noch einmal umzusehen, das Parlamentsgebäude und wird in seinem Volvo nach Zoetermeer gefahren. Erst als er in seinem Ministerium die Bürotür hinter sich geschlossen hat, baut er das Telefon zusammen. Es sucht nach einem Netz und fängt sofort an zu vibrieren: zwei Nachrichten, die erste ist ausgerechnet von Isabelle Orthel. He, ich hab dich gerade gesehen, ist das vielleicht lange her. Geht es dir gut? Die zweite SMS wurde von derselben unbekannten Handynummer verschickt. Wie blass du warst, verdammter Dreckswichser. Mach mir ein Angebot .
Er knallt das Telefon auf seinen Schreibtisch, starrt es eine Weile an und nimmt es dann wieder in die Hand. In fünf Minuten hat er eine Besprechung mit seinem General- und Staatssekretär; anstatt sich vorzubereiten, tippt er ungeschickt eine Antwort.
Wer bist du?
Den Rest der Woche zerbricht er sich über diese Frage den Kopf. Viermal ruft er die Nummer an, und immer wieder landet er per Rufumleitung bei einer Frauenstimme, die die Zahlenfolge herunterbetet, bevor der Piepton erklingt. Einmal hinterlässt er eine Nachricht, entschieden und unmissverständlich: Gib dich zu erkennen, Mann, oder lass es Gott verdammt noch mal hierbei bewenden. Einmal geht jemand ran, schweigt aber. Wiederholt fragt er, mit wem er es zu tun hat, bis die Verbindung nach einem abfälligen Lachen – einem heiseren Männerlachen – unterbrochen wird.
Es gibt nur wenige Möglichkeiten. Außer ihm weiß Joni von seinem «besonderen» Verstricktsein, vielleicht auch Aaron – er selbst würde sich lieber die Zunge abbeißen. Also muss einer der beiden geredet haben; dass die beiden selbst hinter diesen krankhaften Nachrichten stecken, schließt er aus. Oder unterschätzt er Aaron? Könnte es sein, dass er Aarons Wut geweckt hat? Was hattest du in meinem Haus zu suchen? Was war das für ein Urlaub, den du uns da spendiert hast? Deshalb? Nein, das glaubt er nicht. Der Junge ist nicht blöd. Nein, einer hat geredet, er oder sie. Derjenige, der ihn ins Visier genommen hat, ist gut informiert, er weiß, dass Joni diese Linda ist, und weiß von ihm – weiß, mit anderen Worten, alles , und das macht ihn wütend, wütend auf diesen Mistkerl, aber auch wütend auf Joni und Aaron: Warum haben sie geredet?
Oder schlussfolgert er zu schnell … Er guckt sich die beiden Nachrichten etwas genauer an. Könnten sie nicht von jemandem stammen, der Joni erkannt hat, jemandem, der sie wie er erkannt hat – das wäre doch möglich – und jetzt blind drauflos sein Glück versucht? Einen Schuss ins Dunkle wagt? Wer tut so was? Jemand von der Tubantia? Ein Student?
Es ist, wie dem auch sei, ein Volltreffer. Seine alte Angst kehrt zurück, eine lähmende Mischung aus beklemmendem Eigennutz, vor allem daraus, und einer überwältigenden väterlichen Besorgtheit. Nicht nur seine eigene Existenz steht auf dem Spiel (eine Existenz, die mutiert ist, die Existenz von Siem Sigerius ist ausgewuchert zu einem System von Interessen, Kontakten, Erwartungen, Verpflichtungen; eine Reputation wie ein kristallener Kronleuchter, der auf gar keinen Fall herunterstürzen darf), sondern auch die von Joni. Die Illusion, dass Joni ohne Schande aus der Sache herauskommen könnte, dass am Ende alles beim Alten bliebe, eine vorsichtig glimmende Hoffnung, die ihn in den letzten Monaten einigermaßen bei Laune hielt, ist geplatzt.
Bei der nächsten Fragestunde im Parlament, zu der er einbestellt wird, passiert, wovor er sich fürchtet, und vielleicht trifft die SMS ihn deshalb mit aller Wucht. Ich seh dich da sitzen, Wichser.
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