Bonita Avenue (German Edition)
schlägt mit der flachen Hand auf seinen Oberschenkel. Er muss Tineke auf jeden Fall irgendetwas sagen. Tisch ihr doch eine halbe Wahrheit auf, das ist der richtige Moment. Jetzt ist es nur ein Umschlag mit Unterwäsche, das nächste Mal steht der Wahnsinnige selbst vor der Tür – und dann? Sein Zögern und Sich-Winden hat bereits Aaron in Gefahr gebracht, was ihn an sich schon wütend macht, aus einem Reflex heraus will er Aaron beschützen: In dieser irrsinnigen Seifenoper, zu der sein Leben geworden ist, muss er seinen Quasi-Schwiegersohn vor seinem Sohn in Schutz nehmen? Es ist Zeit für ein Geständnis.
Sie ist nicht unten. Dann ist sie meistens in ihrer Werkstatt hinten im Garten. In der Küche trinkt er ein Glas Wasser. Unentschlossen schaut er ins Dunkel hinter der Waschküche, schaltet die Außenbeleuchtung an und geht durch das verwilderte Wintergras, in dem, wie ihm jetzt auffällt, Disteln wachsen. Schon auf halber Strecke hört er das Heulen der Formatkreissäge und der Absauganlage. Er öffnet das schwere Tor und bleibt in der gemauerten Öffnung stehen. Etwa zwanzig Meter von ihm entfernt, unter an dünnen Stahlseilen hängenden Neonröhren, schiebt seine Frau eine Holzplatte am Sägeblatt entlang. Sie bemerkt ihn nicht, trägt einen kopfhörerartigen Gehörschutz.
Wie anfangen? Er inhaliert den angenehm natürlichen Geruch von frisch geschnittenem Holz. Er ist dankbar, dass sie ihn nicht sieht. Wie immer empfindet er Bewunderung für ihre Kreativität; seine Frau denkt sich etwas aus, zeichnet es, lässt es anschließend zwischen ihren Händen entstehen und verkauft es. Während er zusieht, wie sie arbeitet – konzentriert, zielgerichtet, schnell, ihr Übergewicht scheint zwischen den Maschinen von Vorteil zu sein, als wäre es die Bedingung dafür, die Oberhand zu behalten –, zieht sich die Dringlichkeit zurück wie das Meer.
Muss er nicht zu ihr hingehen? Ihr auf die Schulter tippen, Liebling, setz dich doch kurz mal, ich muss dir was erzählen? Was ihn in genau diesem Moment, diesem unmöglichen Augenblick, rührt, ist der ungetrübte Pragmatismus, mit dem sie ihm in all den Jahren beigestanden hat, wenn es um seinen Sohn ging. Ständig verursachte der Junge Katastrophen und andere Zwischenfälle, und immer war sie es, die das Ganze relativierte, war sie es, die Lösungsvorschläge machte, die Gesichtspunkte ins Feld führte, dank deren er in dem, was sich durchaus zu einer Depression hätte auswachsen können, nicht sang- und klanglos unterging. Was wäre ohne sie überhaupt aus ihm geworden? Sie ist die Erste, die derartige Gedanken beiseitewischen würde, so wie sie jetzt die Sägespäne beiseitewischt, doch er ist aufrichtig davon überzeugt, dass er ohne diese Frau immer noch in der Antonius Matthaeuslaan läge, das Gipsbein auf ewig am Galgen, mit einem Bart bis hinunter auf den benachbarten Willem van Noortplein, in Trauer um seinen zunichtegemachten Olympia-Traum.
Monatelang war nichts mit ihm anzufangen gewesen. Wenn er seinen Judoanzug sah, schossen ihm Tränen in die Augen. Manchmal hörten Margriet und er ihr schallendes Gelächter, laut, hell, unwiderstehlich in seiner Fröhlichkeit, hörten es durch den Küchenfußboden, vor dem Hintergrund ihres eigenen missmutigen, unzufriedenen Schweigens. Ein Explosionsmotor war in die Wohnung unter ihnen gezogen, eine weibliche Kraft, die bei ihnen die Fensterscheiben in den Nuten erzittern ließ. Nachdem er den Motorrollerunfall gehabt hatte und Margriet gezwungenermaßen arbeiten gehen musste und sie von unten ihre über die Maßen freundlichen Besuche zu machen begann, seit diesem Moment waren seine Frau und sein Sohn aus seinen Gedanken getilgt. Das muss er zugeben. Sie existierten nicht mehr. Er lag auf seinem Feldbett, und neben ihm saß Tineke.
Auch heute noch weiß er genau, warum er sich in sie verliebt hat: diese Vitalität. Die Lebenslust, ihre Heiterkeit. Die Art, wie sie dort an der Säge steht, die sie irgendwann gemeinsam in einer Maschinenfabrik bei Münster gekauft haben, wo sie, das zeigte sich im Gespräch, alles über Marken und Typennummern wusste und den Verkäufer in hervorragendem Deutsch nach Umdrehungsgeschwindigkeiten und Sägeblatteinstellungen fragte. Sie war sein Neustart, sie reparierte seinen Willen. Deshalb darf er nicht zu ihr hingehen und sich selbst vor ihren Augen demontieren.
Tineke zog ihn durch ihre morgendlichen Besuche nicht nur aus seinem klebrigen Selbstmitleid, ohne sie hätte er auch
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