Bonita Avenue (German Edition)
erkennt. Die Baumwolle fühlt sich in der Mitte wie Krokant an, vielleicht vom Rotz, aber wahrscheinlich von etwas anderem, das ihn rasend macht und zugleich unendlich traurig. Aus dem Umschlag rutscht nun der harte Gegenstand heraus und fällt mit einem trockenen Klacken auf die WC-Matte aus Gummi. Es ist ein schwarzer Kunststoffpenis.
Sigerius atmet tief aus, entsetzt, wütend. Auch verschreckt. Die grenzenlose Unverfrorenheit schockiert ihn. Er steht auf und setzt sich wieder hin. «Schuft», murmelt er. Das geht zu weit, das geht viel zu weit. Ist der Mistkerl etwa auf dem Dachboden gewesen? Er kann es sich kaum vorstellen. Wenn er sagt: Du hast keine Beweise, dann gibt der Bursche das als Antwort? War er wirklich in der Vluchtestraat? Oder kommt das von … Aaron ? Nein. Nein? Zum Teufel, er weiß es nicht. Hat Aaron etwa Wilbert ins Haus gelassen? Oder ist der Idiot bei ihm eingebrochen?
Er hebt das geäderte Ding von den Fliesen auf und versucht, es mit aller Kraft in zwei Teile zu brechen, vergeblich. Dann wickelt er in der naiven Annahme, es einfach runterspülen zu können, Klopapier darum, auch um den Rest, um alles, weg damit besinnt sich dann aber: Tineke wird den Umschlag vermissen. Er wird sowieso auf der Hut sein müssen.
Jetzt erst schaut er in den Umschlag, in der hintersten Ecke steckt noch etwas, ein Brief, er fischt ihn heraus, liniertes Papier aus einem Heft, er faltet es auseinander. Eine ungeübte Handschrift, die mit den ungleichmäßigen Buchstaben auf dem Umschlag übereinstimmt. «Beschaff dir 100 000 Gulden, Wichser», liest er. «Zeig mal ein bisschen ministerielle Verantwortlichkeit.» Ansonsten steht da noch, dass er am Donnerstag, dem 14. Dezember, um acht Uhr abends am Strand von Scheveningen «ich mach es dir leicht, Wichser, ist ganz nah bei deiner Wichsbude» – eine Tasche mit einhundert Tausend-Gulden-Scheinen vergraben soll, da, wo die Dünen anfangen, genau gegenüber von Strandpfahl 101. «Wenn das Geld nicht daliegt, werden wir Fotos rumschicken.»
Erneut bricht ihm der Schweiß aus, vor Wut, aber auch vor an Panik grenzendem Unbehagen. Das ist verdammt noch mal kein Piesacken mehr, das ist Erpressung – übelste Erpressung. Er wird von seinem eigenen Sohn erpresst. Sollte er jetzt nicht schleunigst die Polizei einschalten? Ja. Aber trotzdem: nein . Seine Waden verhärten sich, er beißt seine Backenzähne beinahe in Stücke. So also fühlt sich Erpressung an.
Er muss schlau und mit Bedacht zu Werke gehen. Beruhige dich ein wenig. Mit diesem Umschlag kann er nicht ins Wohnzimmer. Nach oben, in sein Arbeitszimmer. Eilig stopft er den Krempel wieder in den Luftpolsterumschlag. Alle Post mit nach oben nehmen und den Umschlag dort verstecken. Er lauscht, ob er Tineke hören kann, erst als er sich sicher ist, dass sie sich nicht in der Diele aufhält, spült er ab und huscht aus der Toilette. Er greift sich den Brief- und Zeitschriftenstapel vom Buffet und geht mit großen Schritten die Treppe hinauf.
In seinem Arbeitszimmer ist es kühl, er setzt sich hin, schiebt die normale Post auf die Ecke seines Schreibtischs. Bevor er die Briefbombe in einer der beiden abschließbaren Schubladen aus grünem Stahl verstaut, nimmt er den Erpresserbrief heraus und lässt seinen Blick noch einmal über die kurze Mitteilung schweifen. Bei dem Ausdruck «ministerielle Verantwortlichkeit» beschleichen ihn erneut ernsthafte Zweifel: Ist das die Terminologie, die sein Sohn beherrscht? Und: Falls dem so ist, hat er einen Sohn, den er derart unterschätzt, dass er Zweifel hat, ob der Junge den Begriff kennt, der für ihn selbst eine ausgesprochen wichtige Rolle spielt? Ja, so ist es.
Er faltet den Brief zusammen und stopft ihn tief in sein Portemonnaie. Mit einem winzigen Seufzer der Erleichterung dreht er den Schlüssel der Lade um. Eine Weile starrt er vor sich hin, das kleine Fenster über seinem Schreibtisch steckt kohlrabenschwarz in seinem kutschengrünen Rahmen. Auf seinem Bürostuhl macht er eine Drehung ins Zimmer hinein, doch was vertraut sein sollte, die wenigen Kubikmeter der Welt, die ausschließlich ihm gehören, seine Zelle, sein Nachdenkraum – ausgerechnet dieser Raum erinnert ihn an seinen Peiniger. Hier hat die Natter geschlafen, die Schlange, die er mit einem Ast hinausgeschleudert hat. Jetzt, zehn Jahre später, sitzt er hier, schweißgebadet, angespannt, von Unruhe zerfressen. Jetzt lässt der Schuft ihn spüren, was Macht ist.
Genug. Basta. Er atmet tief ein,
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