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Bonita Avenue (German Edition)

Bonita Avenue (German Edition)

Titel: Bonita Avenue (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Buwalda
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verliehen. Sie ähnelte ihrem Vater, ihrer beiden Gesichter hatten dieselbe entwaffnende Rundheit.
    «Schön ist das nicht», sagte Profijt. «Denn es kann nicht sein. Ich habe diese Berechnungen mit besonderem Interesse studiert. Manchmal sind sie ungehobelt, meistens überraschend elegant. Und immer zielgerichtet. Es sieht so aus, als wären bestimmte Vorgehensweisen und Standardformeln aus dem Stegreif abgeleitet, nein, entworfen worden. Auf diesem Karton stehen zwei, ich wiederhole: zwei unterschiedliche Beweise für den Satz des Pythagoras.» Er schwieg vielsagend. «Einen davon habe ich noch nie gesehen, der andere ist dreihundert Jahre alt. Wenn es stimmt, was Sie sagen, dann darf ich Ihnen gratulieren.»
    «Papa», sagte Tineke, «natürlich stimmt es, was Siem sagt. Gib sie ihm ruhig.»
    Ihr Vater streckte die Hand aus. «Meine Glückwünsche.» Er war der erste Mathematiker, dem er die Hand drückte, noch Hunderte andere sollten folgen, Tausende vielleicht, doch Tinekes Vater war der allererste. Die Hand war nicht schwielig wie eine Judohand, sie war auch anders als die Hände seiner Schwiegerfamilie, die nasskalt waren und, wenn sie keine Flasche hielten, zitterten.
    «Sie liegen hier noch ein paar Monate?» Profijt hob die Aktentasche auf seinen Schoß und zog vorsichtig einen Stapel Bücher heraus. «Ich übernehme die Aufgabe, Sie mit Proviant zu versorgen.» Außer vier Olympiade-Heften, die er als «Naschzeugs» bezeichnete, gab Tinekes Vater ihm, was er aus seiner eigenen Studienzeit aufgehoben hatte: in braunes Packpapier eingeschlagene Bücher über Integralrechnung, über lineare Algebra, über Zahlentheorie, aber auch A Course of Pure Mathematics von G. H. Hardy, ein Lehrbuch für Abiturienten, die Geschichte der Mathematik von Struiks und sogar einen Mathematikroman, der Flatland hieß.
    «Arbeiten Sie die durch und berichten Sie mir von Ihren Erkenntnissen. Versprechen Sie mir das. Und wenn Sie die Bücher durchgesehen haben, bringe ich Ihnen neue. Als Gegenleistung verlange ich, dass Sie mit mir, sobald Sie wieder laufen können, zum Uithof gehen.»
    «Zum Uithof?»
    «Dort befindet sich die mathematische Fakultät der Universität Utrecht. Und sehen Sie zu, dass Sie schnell gesund werden. Sie haben es eilig.»
     
    Sie sieht ihn. Sie schaltet die Säge aus und nimmt den Gehörschutz ab. «Kaffee? Ja! Prima!», ruft sie lachend, legt ihre Arbeitshandschuhe mit einem klatschenden Geräusch auf eine Werkbank, an der Schraubzwingen hängen, und geht lächelnd an einem futuristischen Schrank vorbei. Sie kommt auf ihn zu – sorglos, nichtsahnend. Blitzartig kommen ihm ihre zahllosen Diskussionen über Wilbert in den Sinn, deren verzweifelter Tiefpunkt die schwierigen Gespräche waren, die sie Ende der achtziger Jahre führten und die ihr Elternsein auf eine harte Probe stellten. Nach dem Prozess wäre ihre Ehe um ein Haar gescheitert, ausgelaugt, wie sie waren, durch dieses Kuckuckskind. Ja, kaum war Wilbert aus dem Weg geräumt, begannen sie sich zu streiten, über alles Mögliche. Tinekes Reaktion darauf war, dass sie dick und fett wurde, sie verlor jede Disziplin. Nach einem feindseligen Jahr fuhr sie zu einem Sommerkolleg nach England, einem Meisterkurs für Möbelmacher, angeblich eine einmalige Gelegenheit, tatsächlich aber war es eine Flucht. Drei Monate blieb sie in Dorset, und er vermisste sie. So sehr, dass er noch vor ihrer Rückkehr den heruntergekommenen Stall für hunderttausend Gulden herrichten ließ, Tröge und Trennwände raus, Tischsägen rein, Regale für Material, Kompressoren für Vakuumpressen, Nietpistolen, eine riesige Furnierpresse.
    «Raus mit der Sprache», sagt sie fröhlich. Sie schaut ihn im grellen Halogenlicht an, und zwar so direkt, dass er schon fürchtet, sie könnte in seinen Gedanken lesen.
    Hier? Jetzt? Welch ein Irrtum zu glauben, dass sich hier, unter den Sparren dieses hoffnungsvollen Schuppens, seine triste, stinkende Beichte ablegen ließe. Seit zehn Jahren ist diese Werkstatt das Symbol für alles, was in ihrer Ehe gelingt, jedes Möbelstück, das daraus hervorgeht, erinnert sie daran, dass sie ihr Leben im Griff haben, dass sie die Ereignisse in ihrem Leben beeinflussen können. Und ausgerechnet hier soll er ihr von Wilbert und Joni erzählen? Vielleicht weil er nichts sagt, der Mund eine Spalte, aus der Kondensluft entweicht, fängt Tineke an zu reden. «Weißt du, was ich vorhin gedacht habe?», sagt sie und nimmt seine Hände zwischen ihre

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