Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bonita Avenue (German Edition)

Bonita Avenue (German Edition)

Titel: Bonita Avenue (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Buwalda
Vom Netzwerk:
nie zur Mathematik gefunden. Mindestens einmal, manchmal zweimal die Woche, meist, wenn Margriet in der Hauptpost am Neude an der Briefsortiermaschine saß, klingelte sie, und er zerrte an der Schnur, die über Rollen zum Treppenpodest, von dort die Stufen hinunter und schließlich zum Türschloss führte, und dann kam sie, mit oder ohne Joni auf dem Arm, die Stiege hochgetrottet – blond, groß, hübsch, guter Dinge, aufgeschlossen, intelligent. Sie leerte seine Thermoskanne ins Edelstahlspülbecken und setzte frischen Kaffee auf, half ihm, wenn die Sonne schien, auf den kleinen Balkon, hatte manchmal ein einzelnes Stuhl- oder Tischbein dabei, das sie, an seinem Bett sitzend, glattschmirgelte, und erzählte unterdessen von ihrem Tag, von ihrem Leben und wie weit in der Stadt die Bauarbeiten an dem neuen Einkaufszentrum Hoog Catharijne gediehen waren. An einem dieser Vormittage, an denen sie ihn aufmuntern kam, brachte sie einen Karton voller Lesezirkel-Zeitschriften mit in die Wohnküche, Libelle, Ariadne , das Einrichtungsmagazin VT-wonen, Privé, Panorama , die üblichen Klatschblätter und Illustrierten eben, und er fragte sich, warum sie oder ihr Bluessänger das lasen.
    «Von meiner Mutter», sagte sie und erzählte, dass ihre Eltern in Tuindorp wohnten, dem Viertel, in dem sie aufgewachsen war, aber erst im Laufe der Woche stöberte er in dem Karton herum, und möglicherweise schon da, vielleicht aber auch später, rutschten zwei moosgrüne Hefte heraus, auf denen die olympischen Ringe prangten, ein Symbol, das er nicht mehr sehen konnte, ohne dass ihm die Galle hochkam, und beinahe hätten die Ringe ihn davon abgehalten, in den Heften zu blättern.
    Mathematik. Gleichungen. Lange davor, in Delft, fielen Algebra und Geometrie ihm leicht, das war der einzige Grund, warum er den naturwissenschaftlichen Zweig der weiterführenden Schule gewählt hatte, so wenig Sprachen, wie es irgend ging, und möglichst viele Fächer, in denen er sich ohne Lernen durchschlagen konnte. Keine Zeit für etwas anderes als Judo. Alles musste dahinter zurückstehen: sein Interesse für Mopeds und Autos, das Schachbrett, die höhere Schule, von der sein Vater gehofft hatte, dass er sie würde besuchen können. Im Nachhinein war es verwunderlich, dass niemand, auch er selbst nicht, es bemerkenswert fand, dass er die Mathematik- und Physikprüfungen ohne Hausaufgabenmachen, ohne Üben, ja ohne Vorwissen zu einem guten Ende brachte. Mal sehen, was die von mir wollen – so ging er ins Examen, bekam eine Zwei plus, indem er kurzerhand das Rad erfand: Er tüftelte dort in der Aula aus, wie man eine quadratische Gleichung in Faktoren zerlegen kann.
    Es muss an der endlosen Langeweile gelegen haben, an dem Dämpfer aller Dämpfer, den sein Leben verpasst bekommen hatte, dass er sich die Aufgaben in den Heften ansah. Zum ersten Mal seit zwölf Jahren, zum ersten Mal nach dem Verlassen der Oranje-Nassau-Realschule fiel sein Blick wieder auf Mathematik. Er nahm sich die Verhältnisgleichungen, die trigonometrischen Figuren, die geometrischen Zeichnungen vor, fünf Aufgaben waren es. Mit einem Kuli machte er sich auf dem Umschlagkarton, den er von einer der Lesezirkelmappen abgerissen hatte, daran, die erste Aufgabe zu lösen, laborierte ein wenig mit den gegebenen Größen herum, die er aus der Frage herausdestillierte, fertigte eine Skizze an. So, wie einem ein Witz einfällt oder man plötzlich eine Idee für ein Nikolausgedicht hat, so entwickelte sich in ihm eine Lösungsstrategie. Das muss doch so sein. Und wenn nicht, dann so. Nach einer Dreiviertelstunde hatte er die erste Aufgabe gelöst, und zwar richtig, das wusste er ganz sicher. Schon nahm er die nächste Aufgabe in Angriff, und gleich danach die übernächste, und wäre er nicht eingegipst gewesen, wäre er die Treppe hinuntergestürmt, um an Tinekes Tür zu klingeln und ihr zu zeigen, was er geschafft hatte.
    Normalerweise flossen die Stunden wie zäher Brei an ihm vorüber, ja schien es in der Küche nie Abend zu werden, und wenn dann doch Abend war, schien es nie Schlafenszeit zu sein, aber jetzt standen Margriet und Wilbert, der noch nicht in die Schule ging und tagsüber in Wijk C bei seiner Oma war, plötzlich vor ihm. Es dämmerte bereits, doch die alltägliche Wirklichkeit drang nicht zu ihm durch, die war ihm irgendwo abhandengekommen, er befand sich in einer opaken, strahlenden Welt, in der eng zusammenhängende Phänomene sich als wahr oder nicht wahr erwiesen, und zwar

Weitere Kostenlose Bücher