Bonita Avenue (German Edition)
auf eine derart sonnenklare Weise, dass ihm das eine flirrende Energie verlieh. Anstatt mürrisch vor sich hin zu starren oder zänkische Gespräche mit Margriet zu führen – die sich das ja auch nicht ausgesucht hatte, einen frustrierten Miesepeter zu Hause –, blieb er den Rest des Abends in die moosgrünen Hefte vertieft und ebenso einen Teil der Nacht, es war kalt, das weiß er noch, es fror in der Küche, doch er ließ seine Finger und Arme starr werden, und als er alle Fragen beantwortet hatte, ging er sie noch einmal durch, löste die eine oder andere davon aus freundschaftlichen Gefühlen für die Aufgabe selbst – was war das für ein Gefühl? – auf eine noch bessere Weise, präzisierte, wo nötig, seine flüchtig notierten Berechnungen oder spann das Ganze auf eigene Faust weiter.
Eine der Aufgaben hat er nie vergessen, weniger wegen der olympischen Konnotation oder weil sie so pfiffig erdacht war, sondern weil er eine Variante davon konstruierte. «ADA/KOK = ,SNELSNELSNELSNEL …» stand da, und die Frage war, durch welche Ziffern man die Buchstaben ersetzen musste, damit der Bruch und die dezimale Lösung stimmten. Das hatte er ziemlich schnell heraus, aber es kostete ihn einiges mehr an Kopfzerbrechen, der schnellen Schwimmerin einen toreschießenden Freund an die Seite zu stellen: PELE × SPEL = DOEL × PUNT, die Frucht eines unglaublichen Bastelns, das ihn wach hielt, bis er trotz der Knirschlaute seines Gehirns Margriet wieder unter die Dusche gehen hörte.
Pelé und sein doelpunt , also Tor, waren mit das Erste, wovon Tinekes Vater sprach. Unangemeldet und zu seiner großen Überraschung stand der Mann eine Woche später an seinem provisorischen Bett, eher ein Herr, denn er trug einen merkwürdig vornehmen zitronengelben Pullunder und hatte weiches weißes Haar, das aussah, als wäre es auf dem Hinweg gewaschen und geschnitten worden. «Das also ist der Übeltäter», sagte Herr Profijt, sein späterer Schwiegervater, Mathematiklehrer am Christlichen Gymnasium in der Diaconessenstraat. Seine wohlgeformte Hand, an der ein schmaler Ehering steckte, hielt den vollgekritzelten Umschlag hoch, den, wie Sigerius erfuhr, eine begeisterte Tineke ihm gebracht hatte. «Junger Mann», sagte er in ernstem Ton, «ich habe das ganze Wochenende über diesem Pelé, der Spiel für Spiel seine Tore schießt, gebrütet. Ich kriege es nicht raus. Erlösen Sie mich.» Woraufhin er sich neben das Bett hockte und Sigerius ihm in einem Ringbuch, das Tinekes Vater aus einer Ledertasche mit Klappe hervorzog, Schritt für Schritt zeigte, wie er das Rätsel konstruiert hatte.
«Wunderbar», sagte der Mann, der Jonis Großvater war. «Hat Hand und Fuß. Und zugleich ist es apart. Auch spielerisch. Meine Tochter behauptet, Sie seien kein Mathematiker. Meine Tochter irrt sich. Wo haben Sie studiert, wenn ich fragen darf?»
«In Delft», sagte er. «An der Oranje-Nassau-Realschule.»
Einen Moment lang herrschte Schweigen. «Das kann nicht sein», sagte Profijt dann. Tinekes Vater hatte eine freundliche Stimme, in die er schulmeisterhafte Sätze weich verpackte. «Es kann nicht sein, dass Sie nur die Realschule besucht haben.»
«Und doch ist es so, Herr Profijt.»
«Dann hat Ihnen jemand geholfen. Ist das Ihre Handschrift? Wissen Sie, um was es sich hier handelt?» Er tippte auf eins der moosgrünen Hefte.
«Gleichungen?»
«In diesen Büchlein stehen die Aufgaben der zweiten Runde der Nationalen Mathematik-Olympiade des Jahres 1969. Diese fünf offenen Aufgaben, junger Mann, wurden von den besten Mathematikdozenten entwickelt, über die unser Land verfügt. Die talentiertesten Gymnasiasten üben ein Jahr lang, um an dieser Wand aus mathematischer Findigkeit zu scheitern.»
«Aha.»
«Die Mehrheit dieser Elite, die Blüte unserer Nation, darf ich wohl sagen, schafft zwei von fünf. Höchstens. Zwanzig Punkte von fünfzig. Die können erhobenen Hauptes nach Hause gehen. Die besten zehn schaffen zwischen dreißig und vierzig Punkten. Manchmal, ganz selten, etwa einmal in fünf Jahren, ist ein außergewöhnlich begabter Junge dabei, der fast alles richtig hat, es sind leider immer Jungs. Ein einziges Mal in der Geschichte der Olympiade, ich glaube, es war 1963, hatte einer alles richtig. So wie Sie. Null Fehler. Fünfzig Punkte. Makellos.»
«Wie schön.» Mitten in der Küche, die ihm auf einmal unerträglich schmutzig, bedrückend und ärmlich vorkam, stand Tineke und strahlte ihn an, als bekäme er einen Orden
Weitere Kostenlose Bücher