Bonita Avenue (German Edition)
Monate jedenfalls lange genug. Also habe ich kurzerhand bei McKinsey angerufen. Auf gut Glück. Und siehe da.»
Er reibt über die Raspel auf seinem Kinn, um seine Nervosität wegzuschmirgeln. Am liebsten würde er ganz genau wissen, was sie miteinander gesprochen haben, Wort für Wort, aber nicht aus Tinekes Mund, sondern von einer Audiokassette, die er bei Bedarf ungestört zurückspulen kann. Er braucht Zeit, um seine Marschrichtung festzulegen. Denn alles lief so gut. Schon seit ein paar Wochen versucht er zu glauben, dass seine nächtliche Offensive Wirkung gezeigt hat. Seit er auf Wilberts Mailbox drauflosgeprescht ist, zumindest auf der, die er für Wilberts Mailbox hielt, bleibt es still. Aber er ist alles andere als beruhigt. In der Fragestunde zum Beispiel war er ja nicht mehr.
«Und?», sagt er lächelnd, «was hatte sie zu erzählen?»
«Ach, wir haben natürlich nur kurz geredet. Ich glaube, ich habe sie ein wenig überfallen. Sie hörte sich müde an. Aber ich hatte den Eindruck, ihr Praktikum läuft gut. Sie meint, dass man ihr eine Stelle anbieten wird.»
«Wird sie nach Frankreich kommen?»
«Sie fürchtet, das schafft sie nicht. Sie ist den ganzen Monat bei einem wichtigen Kunden.»
«Dann wird sie zwischen Weihnachten und Neujahr knüppelhart weiterarbeiten müssen», sagt er. Er versucht, die Erleichterung, die sich in seinen Eingeweiden breitmacht, verborgen zu halten. «Wo arbeitet sie?»
«Wo sie arbeitet? Im Büro.»
«Bei welcher Firma. Da über Weihnachten.»
Die Arglosigkeit, mit der seine Frau nachdenkt, beruhigt ihn vollends. «IBM?», sagt sie. «Ja, IBM.»
«Ach», sagt er, «ich weiß auch gar nicht, ob es ihr mit Ria und Hans wirklich gefallen würde.»
«Skifahren will sie doch immer. Ich habe mich vorsichtig nach Aaron erkundigt.»
«Aha. Und?»
«Sie fand, es sei gut so, wie es ist.»
Durch Nieselregen fahren sie zum Bauernhaus. An manchen Abenden in Den Haag sehnt er sich nach Enschede, doch jetzt, als er sich vorstellt, wie Tineke tagaus, tagein in diesem leeren, ausgestopften Tier herumwuselt, will er zurück in die betäubende Hektik seines Ministeriums. Er parkt auf dem Kies, sie betreten das Haus durch die Waschküche, die nach warmer Waschmaschine riecht. Tineke öffnet die Trommel und zieht einen nassen Strang heraus, er geht weiter ins dunkle Wohnzimmer, schaltet Lampen an.
«Ist viel Post gekommen?», ruft er, doch Tineke hört ihn nicht. Er geht weiter in die Diele, bemerkt den vertrauten Geruch von Schiefer und kaum noch wahrnehmbarer Beize. Er macht Licht über der Kommode, der Stapel aus Umschlägen und Zeitschriften reicht bis zum Rand des Marseille-Fotos, daneben die Zeitungen, die sie auf seine Bitte hin aufbewahrt. Zwischen den Umschlägen liegt ein Päckchen mit einem Buch, das er vor einiger Zeit bestellt hat, außerdem sind da ein Kuvert aus Japan, die neue Ausgabe von Pythagoras , einige späte Glückwünsche zu seiner Ernennung, zwei Ausgaben der Fußballzeitschrift Voetbal International , Rechnungen, ein Brief von der Königlichen Akademie der Wissenschaften und ein knubbeliger mittelgroßer Umschlag mit rot durchgestrichener Adresse, unter die Tineke «falsch zugestellt» geschrieben hat. Etwas Hartes steckt darin. Seine Stimmbänder beginnen zu vibrieren, als er in dem Moment, wo er bemerkt, an wen der Brief gerichtet ist, tief Luft holt. An Herrn Drecks Wichser steht da in krakeliger Kinderschrift, Langkampweg 16, 7522 CZ Enschede – «Langkamp» anstatt «Langenkamp».
Erst wird seine Hand warm, dann feucht und kalt, sein Schweiß tränkt das Papier des Umschlags. Seine Frau denkt also, dass der Herr Drecks Wichser hier nicht wohnt. Der Impuls, zu ihr in die Waschküche zu laufen und sie zu umarmen, ihr alles zu beichten, zu sagen, dass es ihm leidtut, und zugleich die Angst, dass sie gleich in die Diele kommen könnte – er ist wie versteinert. Er starrt sich selbst auf dem Marseille-Foto an: ein Baum mit einem Baum in seinen Armen. Mich kriegst du nicht klein, Freundchen .
Er presst den Umschlag an seine Brust, geht auf die Toilette und sackt seufzend nieder. Beim Wasserlassen reißt er das Kuvert auf, an der Unterseite, oben ist er mit dickem braunem Paketband zugeklebt. Seine zitternde Hand zieht schreckliche Dinge daraus hervor: eine schwarze Netzstrumpfhose, einen winzigen roten Slip und ein Baumwollknäuel, ein zusammengeknülltes Taschentuch nämlich – sein Taschentuch, wie er durch weiße Blitze des Schreckens hindurch
Weitere Kostenlose Bücher