Bonita Avenue (German Edition)
der Hand an Sigerius’ Stirn und gab ihm mit dem Maulwurfsfinger einen heftigen Stoß.
«Hund», sagte er.
Noch ehe Sigerius sich klarmachen konnte, dass er nicht reagieren durfte, ja noch ehe ihm bewusst wurde, dass er nicht in der Position war, den Mann weit oben und über Kreuz bei seinem Polyester-Revers zu packen, ihn kräftig nach unten zu ziehen und knurrend hochzuheben – ihn auf der Stelle zu würgen, so groß und hinterhältig er auch war –, drehte Wijn sich um und ging. Ohne irgendjemanden anzusehen, schlurfte er in seinem zu weiten Anzug von der Stange an der Schlange der Laureaten vorbei und stieg mit dumpfem Gepolter vom Podium.
Später dachte er: Vielleicht ist Wijn daran schuld. Seine Klaue, dieser dreckige Mistfinger. Dass er die Dinge nun anders sah. Ein Queue aus Fleisch, der seiner Wahrnehmung einen Drall gab.
Tatsache war, dass er keine Minute später Joni und Aaron in der Schlange entdeckte, seine Tochter einen halben Schritt seitlich davon, zu ihrem kahlen Freund hochblickend, aufmerksam hörte sie ihm zu. Was stach ihm ins Auge? Zunächst nichts Besonderes. Dass sie wunderschön aussah, so im Profil. Dass sie genau wusste, wie sie sich präsentieren musste, wenn ihr Vater den feinen Gockel spielte. Sie trug einen weißen Rollkragenpullover aus Wolle, eng, aber klassisch, Weißgold funkelte an ihren Ohren und Handgelenken. Ihm fiel erneut auf, wie chic sie gekleidet sein konnte, kostspieliger und gepflegter als andere Studenten – aber niemals bieder, Joni konnte gar nicht bieder aussehen, selbst wenn man sie unter Perlen begrub, sie war stilvoller, besser . Ihr volles Haar hatte sie unter eine Mütze gestopft, so ein russisches Nikita-Ding, und nur ihr Hinterkopf verriet, dass sie hellblond war.
Im nächsten Moment beugte er sich vor, um die Gattin eines ehemaligen Rektors, eine silberhaarige Frau mit leiser Stimme, verstehen zu können. Mit aufgesperrten Augen hielt er seinen Kopf an ihr langes, schmales Ohr und sah Joni mehr oder weniger zufällig an, er blinzelte ihr zu und lächelte, aber sie bemerkte ihn nicht. Ihr wunderschönes Gesicht konzentrierte sich auf etwas anderes, wahrscheinlich auf ihre Mutter neben ihm.
Da sieht er es. Das dunkelbraune, sibirische Mützchen auf Jonis Kopf rückt etwas in seiner Erinnerung zurecht. Offenbar produziert sein Mund ein Geräusch, ein Seufzen oder Stöhnen oder noch etwas anderes, denn die Frau, in deren Ohr es dringt, weicht zurück. Er richtet sich auf, nickt ihr geistesabwesend zu, reißt den Mund weit auf und klappt ihn wieder zu. Die Ähnlichkeit, die er zu erkennen meint, dringt wie etwas Heißes in sein Bewusstsein, wie eine Flüssigkeit, die ihn auszuschalten versucht. Kochendes Blei. Ihm ist schwindelig. Die phänomenale Fähigkeit des Gehirns, Gesichter zu erkennen, mühelos, ohne Vertun. Die hat ihn immer fasziniert, jetzt richtet sie ihn zugrunde. Es ist nicht einmal Erkennen, es ist an allen Fronten mehr. Was sich ihm aufdrängt, ist … Identifizierung . Der aufmerksame Blick von Joni, fünf, sechs Meter entfernt von ihm, die dunkle Pelzmütze, die über ihre glatte Stirn gezogen ist, sodass er sie zum ersten Mal als Brünette wahrnimmt. Das stärker als sonst aufgetragene Makeup, die geschminkten Lippen, die vor Konzentration ein wenig geöffnet sind. Die Gesamtheit ihrer Züge, das Offene, Reine ihres energischen, selbstbewussten Gesichts, alles, was zusammengenommen das charakteristische Erscheinungsbild seiner Tochter ausmacht, schiebt sich über das andere Gesicht, ein Gesicht, das er in gewisser Weise auch träumen kann – bis es in seinem transpirierenden Hirn «klick» macht. Sie ist es .
«Siem, mein Lieber – was hast du?» Tineke ergriff mit ihren kühlen Fingern sein Handgelenk und versuchte, ihn anzusehen. Sein Blick war falsch fokussiert, und er sah die körnige Struktur ihres violetten Lidschattens, hörte sie sagen, dass er ganz blass sei und in letzter Zeit viel zu wenig schlafe. Sie kniff ihn in die Schulter, machte einen Schritt nach vorn und sagte etwas zu der Frau vor ihm. Er starrte auf Tinekes breiten Rücken in dem purpurfarbenen Kleid, das sie speziell für diesen Nachmittag hatte anfertigen lassen.
«Morgen fliegst du in aller Ruhe nach Shanghai», flüsterte sie, als sie wieder neben ihm stand, «gleich hast du es überstanden. Du hältst dich wacker. Die Nachricht von Wilbert hat dich getroffen. Ich sehe es dir an.»
Seine Beschützerin, das liebevolle Streichen der zweiten Geige, das
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